Das Hexenbuch von Salem
natürlich nicht.
Sie runzelte die Stirn, weil es immer unwahrscheinlicher wurde, dass sie noch einmal einschlafen konnte. Liz war vor über einer Stunde in die Falle gekrochen. Connie sagte sich, dass es vermutlich auch an ihrer Nervosität wegen morgen lag, wenn Liz mit dem Zug zurück nach Cambridge fahren würde. Am Montag würde Liz mit dem Unterricht an der Harvard-Sommer-Universität beginnen: lateinische Deklination für strebsame Jugendliche. Schon bald würde das Haus sie ganz für sich allein haben. Connie kam sich vor wie jemand, der verlassen und allein auf einem Sprungbrett über einem dunklen See steht, den er nicht genau erkennen kann. Liz hatte Recht. Sie hätte sich nie auf diese Sache einlassen sollen.
Sie stand von ihrem Platz am leeren Kamin auf und nahm die kleine Messinglampe mit zu dem Bücherregal, weil es sie nach Ablenkung verlangte. Vielleicht fand sie ja einen alten Abstinenzlerroman oder ein Buch über Strategien beim Bridgespielen. Sie lächelte vor sich hin. Schon allein bei dem Gedanken, etwas Derartiges zu lesen, wurde sie wieder schläfrig.
Sie fuhr sanft mit den Fingern über die brüchigen Bücherrücken, wodurch ein feines braunes Puder aus dem unbehandelten Leder aufstieg und ihre Fingerspitzen fleckig machte. Bei dem schummrigen, flackernden Licht war keiner der Buchtitel zu lesen. Sie zog ein schmales Bändchen aus dem Regal, Schmutz und Teile der Bindung regneten auf den Boden hinab. Sie blätterte zur Titelei vor: Onkel Toms Hütte. Typisch. In keinem neuenglischen Haushalt durfte eine Ausgabe dieses Klassikers fehlen. Das war eine Art Visitenkarte gewesen, denn damit wurde signalisiert, dass diese Familie
beim Bürgerkrieg auf der richtigen Seite gestanden hatte. Sie seufzte und stellte das Buch an seinen Platz zurück. Manchmal konnten die Neuengländer so selbstgerecht sein.
Sie ließ die Lampe an den Regalen entlangwandern, deren gelber Lichtkegel die Buchrücken zusammen mit Connies Kinn und den Fingerknöcheln beleuchtete, während der Rest des Zimmers in schwarzer Finsternis versunken war. Schließlich begab sie sich zum untersten Regal, wo die dicksten, schwersten Bücher standen. Möglicherweise handelte es sich um Bibeln oder Psalter. Nach der puritanischen Lehrmeinung war es wichtig – ja, lebensnotwendig -, Lesen und Schreiben zu lernen, um die göttliche Gnade zu erfahren. Aus diesem Grunde hatte auch jedes Heim in Neuengland über eine eigene Ausgabe mit Gottes Wort verfügen müssen. Sie stellte die Lampe auf dem Boden ab, zog mit Mühe den größten Band aus dem Regal und stützte ihn mit einem ihrer schlanken Arme ab, während sie darin blätterte. Ja, eine Bibel – eine alte, wenn man von der eigenwilligen Rechtschreibung und der Brüchigkeit des Papiers ausging. Siebzehntes Jahrhundert, vermutete sie, erfreut darüber, dass sie hier ihr Wissen anwenden konnte. Einen flüchtigen Moment lang ertappte sie sich bei dem Gedanken, was diese Bibel wohl wert war. Aber nein; Bibeln waren die am weitesten verbreiteten Texte gewesen und folglich überhaupt keine Raritäten, nicht einmal, wenn sie so alt waren. Zudem war diese hier stockfleckig und hatte einen Wasserschaden. Die Seiten fühlten sich irgendwie aufgequollen und schmutzig an.
Während sie etwa in der Mitte des zweiten Buches Mose eine Seite aufschlug, fragte sich Connie, was sie wohl zu finden hoffte, wenn sie anfing, dieses Haus zu durchforsten. Liz hatte gemeint, Connie und Sophie hätten sich bestimmt gut verstanden, aber eigentlich hatte sie ihre Großmutter gar nicht richtig gekannt. Wer war diese sonderbare, dickköpfige
Frau gewesen? Und wessen Geschichte lag hier verborgen?
In genau dem Moment, als ihr diese müßigen Gedanken durch den Kopf gingen, durchfuhr urplötzlich ein heißes, kribbelndes Prickeln die Hand, in der sie die Bibel hielt – eine Mischung aus dem Gefühl, wenn einem ein Arm oder ein Bein einschläft, und dem schmerzhaften kleinen Schlag, den man bekommt, wenn man einen kaputten Stecker aus der Dose zieht. Connie schrie vor Schmerz und Überraschung auf und ließ das schwere Buch fallen. Es landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden.
Sie rieb sich die Hand, doch das Prickeln war so flüchtig gewesen, dass ihr einen Moment später schon Zweifel kamen, ob sie es überhaupt wirklich empfunden hatte. Sie kniete sich hin, um nachzuschauen, ob sie das alte Buch beschädigt hatte.
Die Bibel lag offen auf dem Boden, teils beschienen von dem warmen Licht der Öllampe,
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