Das Hexenbuch von Salem
eigentlich muss ich ihn gar nicht persönlich sehen«, erhob Connie Einspruch. »Ich wollte nur etwas in den Kirchenarchiven nachschauen.«
»Warten Sie einen Moment«, sagte die Stimme, die jetzt so klang, als käme sie von oben. Wieder hörte Connie es rascheln, gefolgt von einem schrillen Quietschen, als ob man eine Angelschnur mit der Kurbel aufrollt. Eine dunkle Gestalt landete mit einem dumpfen Aufprall gut einen Meter vor ihr auf dem Boden, direkt im Mittelgang der Kirche. Sie machte überrascht einen Satz zurück. Die Gestalt stellte sich als hochgewachsener junger Mann heraus, der einen mit Farbe beklecksten Overall trug und sich einen Gürtel mit Werkzeug um die Hüften geschlungen hatte. Er hakte sich mit seiner Sicherung aus den Seilen aus, die, wie Connie jetzt entdeckte, von einem Gerüst gleich unterhalb der Decke hingen, und machte ein paar Schritte auf sie zu, um ihr die Hand zu schütteln.
»Hallo«, sagte er und grinste schief, als er sah, wie überrascht sie war.
»Oh!«, machte Connie. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder, als kein weiteres Geräusch herauskam, und ihre Hand schnellte zum Ende ihres Zopfes hoch, der über ihrer Schulter baumelte, was sie oft tat, wenn sie nervös oder aufgeregt war. Sein Lächeln wurde noch breiter.
»Hallo«, sagte Connie schließlich, ließ den Zopf los und schüttelte ihm ebenfalls die Hand. Sein Händedruck war trocken und fest, und Connie wurde sich plötzlich bewusst, wie verschwitzt und zerknittert sie sich fühlte.
»Ich glaube nicht, dass Bob was dagegen hätte, wenn ich
Ihnen die Archive zeige«, sagte der Mann und nahm ihre Unterhaltung wieder auf. »Da will sowieso kaum jemand reinschauen.« Jetzt entdeckte Connie, dass er sich einen Ring durch die Nase hatte piercen lassen, und sie lächelte amüsiert. Wahrscheinlich spielte er in einer Grunge-Band. Sie stellte sich vor, wie er einem kreuzunglücklichen Mädchen erklärte, er müsse sich endlich mehr um seine Musik kümmern. Sie unterdrückte ein Kichern.
»Bob?«, fragte sie und konnte sich ein Lachen kaum mehr verkneifen.
»Der Pfarrer. Ich dachte, Sie kennen ihn?« Der Mann schaute sie neugierig an.
»Oh, nein«, sagte sie. »Ich kenne ihn nicht, nein. Ich studiere an der Graduate School. Und fange mit meiner Dissertation an.«
»Echt?«, fragte der junge Mann und führte Connie den seitlichen Gang entlang zu einem Treppenhaus. »Wo? Ich war auf der BU und hab meinen Master gemacht. Denkmalschutz.«
Connie war überrascht und schämte sich ebenso schnell für sich selbst, denn sie hatte ihn für einen Handwerker gehalten. »Harvard«, sagte sie verlegen. »Ich beschäftige mich mit amerikanischer Kolonialgeschichte. Ich heiße Connie, und wir können gerne Du sagen.«
»Super. Ich hab mal ein paar Leute gekannt, die das auch studiert haben. Ist aber ein paar Jahre her. Jedenfalls bist du hier genau richtig, wenn du Kolonialgeschichte studierst.« Er lächelte. Wenn er gespürt hatte, dass sie ihn falsch eingeschätzt hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
Der junge Mann führte sie zu einem Durchgang, der unter der Treppe lag und, wie Connie vermutete, zu einer Chorempore führte, und nahm einen gewaltigen Schlüsselbund von seinem Werkzeuggürtel. Er suchte einen kleinen, reich
verzierten heraus und steckte ihn ins Schloss, stieß die Tür auf und bedeutete ihr einzutreten. Connie spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte, als sie sich an ihm vorbei durch die Tür zwängte, nahe genug, dass sie mit dem T-Shirt seinen Overall streifte.
Der Raum war fensterlos und wurde nur durch eine einzige Neonröhre an der Decke beleuchtet, die zischte und flackerte, als sie eingeschaltet wurde. Reihe um Reihe türmten sich hier fast identisch aussehende, in Leder gebundene Folianten, die von zerfleddert bis fast neu rangierten. Direkt zu ihrer Rechten, unter der Biegung des Treppenhauses versteckt, thronten mehrere Holzschränke für Katalogkarten, und in der Mitte des winzigen Zimmers stand ein einfacher Kartentisch, umringt von mehreren Klappstühlen.
»Taufen«, sagte der Mann und zeigte auf die jeweiligen Schränke. »Eheschließungen. Todesfälle. Und – das sind mir die liebsten – die Annalen der Gemeindemitglieder. Hier findest du all diejenigen, die offiziell der Kirche beitreten durften.« Er hielt inne. »Und diejenigen, die sie verlassen mussten.«
»Das ist unglaublich!«, rief Connie und schaute sich in dem Zimmer um. »Ich bin erstaunt, dass ihr hier so viel Material habt.
Weitere Kostenlose Bücher