Das Hexenbuch von Salem
spähte in ihren Takeaway-Pappkarton mit gebratenen Thainudeln, die Stäbchen erwartungsvoll gezückt.
Connie lachte. »Was ist das bloß bei den Jungs?«, neckte sie. »Jeder Junge, den ich kenne, kann sein eigenes Gewicht an Essen verdrücken. Du solltest den Typen aus meinem Tutorium sehen. Der sieht so aus, als würde er neunzig Pfund wiegen, aber jedes Mal, wenn wir uns zum Mittagessen treffen, bestellt er sich eine zweite und dritte Portion.«
Sam lachte, den Mund voller Nudeln. »Glück muss der Mensch haben«, sagte er. »Mmmhhh. Deins ist besser als meins.«
Connie ließ ihren nackten Fuß über den Rand der Anlegestelle baumeln und blickte in den Hafen hinaus, der sich unter ihr erstreckte. Mehrere Yachten waren zusammen vor Anker gegangen, eine dunkle Masse, die vor dem sich rötenden Himmel immer dunkler wurde, und der tröstliche Klang von Hisstauen, die gegen Maste klirrten, kam über die Wasseroberfläche geweht. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die Kais wohl ausgesehen haben mochten, als Salem noch ein geschäftiger Seehafen und eine der größten Städte in den amerikanischen Kolonien gewesen war. Selbst für ihr geübtes Denken war dieses Bild jedoch so fern, dass es nur schwer heraufzubeschwören war. Vor ihrem inneren Auge lag ein großes, dreimastiges Segelschiff an dem Dock, auf dem sie saßen, und gewaltige Stapel Truhen und Käfige mit lebenden Hühnern, Säcke voller Korn und geölte Rumfässer waren auf der Mole übereinandergeschichtet. In ihrer Phantasie füllte sie die klapprigen Lagerhäuser und Segelmachereien, die in dichten Reihen an dem langen Kai standen, während ihre Holzschilder im Wind schaukelten. Sie versuchte, das Brüllen des Segelmeisters zu hören, der den Seeleuten in der Takelage über ihm Befehle zurief, doch alles, was sie wirklich hörte, war der Schrei einer Möwe, die auf einem verrottenden Pfahlwerk etwa sechs Meter draußen auf dem Wasser hockte. Vielleicht hatte Grace ja Recht.
Vielleicht verbrachte sie ja wirklich zu viel Zeit in der Vergangenheit und verwandte zu wenig Aufmerksamkeit auf die Gegenwart.
»Viel Zeit haben wir nicht«, sagte Sam und rückte auf dem Kai ein Stück näher an sie heran.
»Aber wir müssen doch nirgendwo hin.« Connie lächelte ihm zu.
»Doch, müssen wir«, sagte Sam, sprang auf und hielt ihr die Hand hin.
Sie folgte ihm in eine dunkle Gasse, die durch die Gegend hinter dem alten Handelskontor führte, und war überrascht, als sie plötzlich wieder vor der First Church standen, wo sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie waren von der anderen Seite aus gekommen, und Connie fühlte sich von dem seltsamen Schwindel erfasst, den sie stets verspürte, wenn sie aus unbekannter Richtung plötzlich an vertrauter Stelle herauskam. Er schloss die Tür des Bethauses auf und hielt sie für sie offen.
»Nachdem ich dich einen ganzen Tag lang von der Arbeit abgehalten habe«, sagte Sam, während er sie zu dem Treppenhaus dirigierte, das sie schon an jenem Tag in den Kirchenarchiven bemerkt hatte, »ist die Frage, was dein nächster Schritt ist. Mercy Lamsons Nachlassverzeichnis hast du schon gesehen, stimmt’s?«
»Ja«, sagte Connie und setzte achtsam die Füße, während sie auf der engen Wendeltreppe nach oben stiegen. »Mercy hat ihrer Tochter Prudence ein Buch hinterlassen, das als ›Rezeptbuch für Medizin‹ bezeichnet wurde.«
» Prudence? Besonnenheit?«, wiederholte Sam. »Toll.«
»Ja«, stimmte ihm Connie zu. »Diese Namen sind ziemlich krass.«
»Du willst also noch mal in die Nachlassabteilung und nach der lieben Besonnenheit schauen?« Er blieb stehen,
summte ein paar Takte, und seine Stimme hallte in der leeren Mitte des Treppenhauses wider. Hier wurde die Treppe steiler und verströmte einen muffigen Geruch, nach seltener Benutzung und toten Wespen. Sam hatte kein Licht angemacht.
»Vielleicht«, sagte sie schließlich. »Ich meine, ja, auf jeden Fall. Aber Mercy war im Jahre I7I5 in irgendeine Gerichtssache verwickelt, und ich würde gerne herausfinden, worum es sich dabei handelte. Vermutlich werde ich das morgen machen. Zum Gericht gehen. Und danach werde ich mir Prudences Nachlassverzeichnis anschauen.« Langsam blieb ihr die Luft weg von dem steilen Anstieg. In diesem Moment blieb Sam vor ihr stehen, und sie hörte, wie er sich an seinem Schlüsselbund zu schaffen machte.
»Da wären wir«, sagte er und steckte einen Schlüssel in das Schloss vor ihnen. Mit einer Schulter drückte er die schwere
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