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Das Hexenbuch von Salem

Das Hexenbuch von Salem

Titel: Das Hexenbuch von Salem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Eine Welle der Übelkeit stieg in Mercys Magen auf, und sie spürte, wie ihre Stirn ganz kalt und feucht wurde. Nur allzu bald würde sie an der Reihe sein.
    Hinter der Richterbank hing das lebensgroße Porträt
eines majestätisch dreinblickenden Mannes, in einer feinen, pelzbesetzten Robe, mit langem, lockigem Haar und schweren Ringen. Wieder wandte sie ihre Aufmerksamkeit diesem Konterfei zu, das sie schon den größten Teil des Morgens betrachtet hatte. Noch nie hatte sie eine solche Ähnlichkeit mit einer lebendigen Person gesehen. Selbst von ihrem entfernten Aussichtspunkt auf der Galerie aus schienen seine Augen warmherzig und gütig zu blicken, und seine Haut war gesund und leicht gerötet. Einmal hatte sie sich bei dem Gedanken ertappt, wie es sich wohl anfühlen würde, mit den Fingern durch dieses feine, lockige Haar zu fahren wie mit einem Kamm – bestimmt war es weich, glatt und duftete nach Lavendel. Peinlich berührt rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. Die Ähnlichkeit war gewiss verblüffend, dachte sie. Sollte dieser Mann jemals durch die Straßen von Marblehead gehen, so würde sie ihn bestimmt erkennen, auf der Stelle.
    Jedediah würde noch weitere zwei Monate auf See bleiben. Mercys Augen färbten sich dunkel, als sie daran dachte, was er wohl empfinden würde, sollte er einiges von dem hören, was sie heute zu sagen hatte. Obwohl er sehr wohl wusste, was sie vorhatte, war es umso besser, dass er nicht dabei war.
    Vorne im Gerichtssaal kam Unruhe auf. Der Antragsteller, der gerade eben an der Reihe gewesen war, wurde von zwei Gendarmen weggeführt, mit hängendem Kopf, die Handgelenke in Eisen. Ein hektisches Hin und Her rund um die Bank und die Abteile der Geschworenen zeigte den Beginn des nächsten Falles an, und Mercy sah, wie der Gerichtsschreiber in kurzer, unhörbarer Absprache mit dem Richter die Köpfe zusammensteckte, der nickte und dann den Blick auf sie richtete. Mercys Magen krampfte sich zusammen, und sie schluckte. Plötzlich war ihre Zunge ganz trocken.
    »Mercy Dane Lamson gegen die Stadt Salem im County
Essex!«, rief der Gerichtsschreiber, und eine Reihe von Köpfen drehten sich in ihre Richtung. Einen kurzen Augenblick lang straffte sich die Haut um Mercys Augen vor Überraschung, denn sie war schon lange von Salem weg und kannte keines der Gesichter, die sie jetzt beobachteten, während sie sich von ihrem Platz erhob. Wie kann diese gewandelte Stadt ein so gutes Gedächtnis haben?, fragte sie sich und machte sich auf den Weg zu den Gerichtsschranken. Der Richter, ein Berg von einem Mann in schwarzer Robe, mit Wangen vom kränklichen Gelb eines Talglichts, starrte sie finster an, als sie bei dem leeren Rechteck in der Mitte des Raumes ankam. Ganz nebenbei, auf der flüsternden Ebene unterhalb ihres Bewusstseins, machte sich Mercy eine Liste mit den Kräutern, die man brauchen würde, um ihm einen heilenden Trank für seine sterbende Leber zu brauen. Bestimmt war er ein Mann, der dem Trunk zugeneigt war.
    »Ihr habt also keinen Anwalt?«, bellte der Richter.
    Mercy machte den Mund auf, um ihm zu antworten, doch die trockene Zunge klebte ihr am Gaumen, und stattdessen kam nur ein Husten heraus.
    » Nun? «, drängte der Richter mit barscher Stimme. Mercy richtete sich auf, strich mit beiden Händen ihren Rock glatt und legte sie dann auf die polierte Schranke vor ihr.
    »In der Tat, Sir, ich habe keinen«, sagte sie.
    Der Richter räusperte sich, und Gekicher drang von der Seite, wo die Geschworenen saßen, an Mercys Ohr. Sie hielt den Blick ruhig auf die warmherzigen Augen gerichtet, die von dem Porträt des gebieterischen Mannes auf sie herabschauten. Langsam wurde es still im Saal. Mercy bemerkte eine Wolke, die vor den hohen Fenstern auf der rechten Seite des Saales davonzog und ein gelbes Rechteck aus Sonnenlicht auf die Tische der Anwälte fallen ließ. Die Fensterscheiben begannen sich mit Raureif zu überziehen.

    »Dann heraus mit der Sprache, Frau«, brüllte der Richter, und sie spürte, wie die Wucht seiner Ungeduld sie traf wie ein heißer Wind.
    »So tragt Euer Begehr vor«, flüsterte der Schreiber, der neben ihr aufgetaucht war. Er nickte ihr aufmunternd zu.
    »O ja, gewiss«, sagte Mercy, unschlüssig. Sie faltete ein dickes Bündel Papiere auseinander, die sie während der vergangenen Wochen in gewissen Abständen zuhause verfasst hatte. Sie raschelten in ihren Händen, und Mercy brachte ihren ganzen Willen auf, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie räusperte

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