Das Hexenkreuz
ihre nicht vorhandenen Möglichkeiten erwog, erhob sich
auf dem roten Samt vor ihr ein riesenhaftes Gespenst. Zu Tode erschrocken fuhr
Emilia herum und erhaschte gerade noch, wie sich eine vermummte Gestalt aus
einer der Portieren hervorschälte. Die Erscheinung ließ ihr Blut gefrieren.
„Psst, ich
bin es nur! Filomena…“ Die junge Nonne streifte mit einer flinken Bewegung ihre
Kapuze ab.
Emilia
benötigte eine Sekunde, um begreifen, dass sie keinem Trugbild erlegen war.
Filomena schien ein besonderes Gespür dafür zu haben, stets in den
dramatischsten Augenblicken ihres Lebens aufzutauchen. Die beiden jungen Frauen
umarmten sich spontan.
„Wie kommst
du hierher?“, wollte Emilia wissen.
„Mit den
anderen Gästen. Diese Umhänge sind wirklich von einigem Nutzen.“ Sie tippte auf
die Kapuze. „Aber hör mir zu, uns bleibt wenig Zeit. Die Opfer-Zeremonie wird
jeden Augenblick beginnen. Sie hat vor, Francesco zu töten!“
„Wie…? Was
sagst du da? Dieses Weib will Francesco töten? Aber wieso?“, stotterte Emilia
entsetzt.
„Weil sie
absolut wahnsinnig ist. Es gibt nur eine Chance, unseren gemeinsamen Freund zu
retten. Doch es verlangt von dir selbst ein Opfer…“ Filomena hielt inne.
Emilia
zögerte nicht eine Sekunde: „Was auch immer nötig ist, um Francescos Leben zu
retten, ich bin dazu bereit. Sag mir, was ich tun muss.“
Filomena
erklärte es ihr in einigen hastig hervorgesprudelten Sätzen. Gleichzeitig mit
ihrem letzten Wort, ertönte der Gong wie ein schicksalhafter Unglücksbringer.
Eine letzte Umarmung, dann trat Emilia auf das Portal zu. Ohne zu Zögern hob
sie ihre Hände und der Umhang glitt von ihren Schultern. Als nächstes löste sie
die Schleife, die das Nachthemd hielt und das hauchzarte Gespinst schwebte
geschmeidig zu Boden. Emilia stieg achtlos darüber hinweg. Bis auf ihre
goldenen Sandalen war sie nun nackt. In dem runden Raum herrschte wohltuende
Wärme, doch der Gedanke an das, was sie nun tun würde, jagte ihr einen kalten
Schauer über den Rücken.
„Du wirst es
schaffen, Schwester“, sprach ihr Filomena Mut zu. Schon huschte sie hinter die
Vorhänge zurück.
Emilia straffte
ihren Körper und stieß das Portal auf. Das Licht Hunderter Kerzen empfing sie
und tauchte ihren Körper in sanftes Gold. Ihr nacktes Erscheinen auf der
Schwelle, rief eine weit heftigere Reaktion hervor, wie jene am Mittag, als die
herzogliche Braut die Kathedrale von San Panfilo betreten hatte. Das beifällige
Raunen Dutzender Stimmen scholl ihr entgegen und hallte um ein Vielfaches
verstärkt von der hohen Gewölbedecke wider. Alles in dem Raum war genauso
arrangiert, wie Filomena es ihr geschildert hatte.
Emilia
befand sich in einer Art Krypta tief unter der Erde. In der Mitte, unter dem
höchsten Punkt des Gewölbes, stand ein schmuckloser Altar: Der Opferstein. Die
Umrisse einer menschlichen Gestalt zeichneten sich auf ihm ab. Francesco!
schoss es Emilia durch den Kopf.
Am
gegenüberliegenden Ende erhob sich ein Podest. Sieben Stufen führten hinauf. Emilia
überflog die vielköpfige Menge, die sich rechts und links des Opfersteins stumm
aufgereiht hatte. Die vermummten Gestalten wirkten auf sie weniger wie
menschliche Wesen, vielmehr glichen sie dunklen Säulen, die direkt aus dem kalten,
felsigen Boden sprossen. Eine Person thronte auf dem Podest über allen. In
Gedanken wiederholte Emilia Filomenas Worte : Halte dich nicht auf, sondern
schreite direkt auf das Podest zu. Vermeide es unter allen Umständen, Francesco
anzusehen. Halte den Blick ausschließlich auf das Podest mit dem Thron
gerichtet! Trotzdem konnte Emilia der Versuchung nicht widerstehen: Für den
Bruchteil einer Sekunde streiften ihre Augen Francescos starre Gestalt. Bis auf
einen goldenen Lendenschurz war er nackt, sein Körper von unzähligen Vernarbungen
gezeichnet. Der Anblick verschlug Emilia den Atem. Doch wenn sie die Chance Francesco
zu retten, wahren wollte, musste sie kaltes Blut bewahren.
Mit dem
gleichen gemessenen Schritten der stolzen Braut, die das Mittelschiff der
Kathedrale durchquert hatte, bewegte sich Emilia durch die Reihen der dunklen
Gestalten. Sie konnte die wachsende Erregung der Anwesenden spüren. Jeden
Moment erwartete sie, dass Dutzende gieriger Hände nach ihr greifen, sie zu
Boden werfen und sich ihres Leibes bemächtigen würden ... Emilia zwang sich,
alle ihre Sinne auf die Person auf dem Podest zu richten, die einzige der Anwesenden,
die ihr Antlitz nicht verhüllt hatte.
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