Das Hexenkreuz
Reiterinnen abgaben. Die Schönheit der beiden Frauen bestach durch
seinen Gegensatz. Die blonde Herzoginmutter in ihrer reifen Schönheit auf ihrem
Schimmel und ihre schwarzgelockte Schwiegertochter auf der lebhaften Stute. Schweigend
und darum einträchtig ritten sie durch die satte grüne Ebene der reizvollen
Umgebung Sulmonas. Die Lage inmitten eines fruchtbaren Tales der Abruzzen,
umgeben von den höchsten Bergen der Apennin-Kette, hatte bereits in der Antike
zu deren Besiedlung geführt. Damals hieß Sulmona noch Sulmo, was soviel wie
wasserreich bedeutet, erklärte ihr Beatrice. Dies blieb allerdings der einzige
Ansatz von Konversation zwischen ihnen. Emilia brannten zwar tausend Fragen auf
den Lippen, doch sie zwang sich, sich in Geduld zu üben. Dass es sich nicht um
einen harmlosen Spazierritt handelte, hatte sie gleich begriffen.
Nach einer
Stunde gemächlichen Rittes hatten sie den Saum eines weitläufigen Nadelwaldes
unterhalb des Maiella-Gebirges erreicht. Der Wald erstreckte sich direkt bis an
die Felsen heran, kletterte nach oben, versuchte noch hier und da Fuß zu
fassen, bis er sich in seinem eigenen Ende verlor. Hier an seinem Beginn standen
die Stämme eng beieinander und der Boden war übersät mit braunen Nadeln.
Emilias Augen versuchten das Zwielicht der Bäume zu durchdringen. Etwas im
Inneren des Waldes zog sie an. Sie wusste, in ihrer Heimat empfanden nicht
wenige Menschen eine tiefe Ehrfurcht vor diesen alten, kaum erforschten
Wäldern. An den langen Winterabenden erzählte man sich in Santo Stefano schauderhafte
Geschichten von blutrünstigen Bestien, die im Wald ihr Unwesen trieben.
Beatrice lenkte
ihren Schimmel zwischen die Stämme. Ein kaum erkennbarer Pfad führte hindurch.
Im Wald herrschte eine seltsame Stille, als würde er den Atem anhalten. Nur
sehr selten war das Rascheln eines kleinen Tieres zu vernehmen. Emilia fiel auf,
dass sich die Männer nicht besonders wohl in ihrer Haut zu fühlen schienen.
Trotzdem folgten sie stoisch ihrer Herrin.
Nach einer
Stunde begannen sich die Bäume fast unmerklich zu lichten. Ohne Vorwarnung
erwuchs vor ihnen ein riesiges, klobiges Gebilde - ein Fremdkörper inmitten der
hohen Bäume, die ihn wie stumme Wächter säumten.
Beatrice
glitt vom Pferd. Offenbar hatten sie ihr Ziel erreicht. Emilia sprang ebenfalls
ab und folgte ihrer Schwiegermutter. Diese hatte das Gebilde bereits umrundet
und war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Beim Näherkommen erkannte Emilia,
dass es sich bei dem Gebilde um die Hinteransicht eines von Efeu überwucherten
Gebäudes handelte. Sie folgte Beatrices Spur, bog um die Ecke und fand sich
plötzlich vor einem antiken Tempel wieder. Zwei mächtige Säulen trugen das mit
Flachreliefs verzierte Giebeldach. Die Reliefs hatten nichts mit den Jagdszenen
an der Porta Filiorum gemein. Diese hier waren filigraner und zeigten grazile
Frauen in kurzen Togen, die sich gegenseitig aus Amphoren mit Wasser
übergossen.
Die
Vorderseite des Tempels war gründlich vom Efeu befreit worden. Auch wenn die
Zeit an ihm genagt hatte, präsentierte sich der Tempel gut erhalten. Er
strahlte die Würde und Erhabenheit aus, die nur sehr alten Bauwerken eigen
waren.
Mit jedem
Schritt wurde Emilia mehr von einem sehnsüchtigen Gefühl nach Unendlichkeit
erfasst. Wie alt der Tempel wohl sein mochte? fragte sie sich. Sieben breite
Stufen führten zu ihm hinauf. Beatrice erwartete sie bereits und sah ihrer
Schwiegertochter mit einem merkwürdig forschenden Ausdruck entgegen. Emilia
fühlte sich plötzlich wie das Kaninchen, das den Flügelschlag des Falken über
sich hört.
Eben noch
getragen von der Schönheit der Natur und der Majestät des Tempels, wich nun
alle Farbe aus dem Tag. Die Stunde war gekommen, in der sie die Klinge mit
Beatrice kreuzen würde. Emilia zögerte nicht; sie selbst hatte diese
Konfrontation herbeigesehnt. Entschlossen setzte sie ihren Fuß auf die erste
Stufe. Oben streckte ihr Beatrice die Hand entgegen. „Kommt, ich möchte Euch
etwas zeigen. Ihr werdet staunen!“ Sie wirkte freudig erregt und ungeduldig wie
ein kleines Kind, das seine Schätze mit den Erwachsenen teilen möchte. Emilia
fand ihre Freundlichkeit verdächtig, doch ihre natürliche Neugier obsiegte. „Wo
sind wir hier? Was…“Sie verstummte jäh und riss die Augen auf. Sie hatte das
Innere des Tempels betreten und die ringsum vollständig erhaltenen Reliefs entdeckt.
Sie waren von so ergreifender Schönheit, dass Emilia wusste, dass diese
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