Das Hexenkreuz
der Hof gut bewacht schienen und eine Flucht wohl nur über
den Garten zu bewerkstelligen wäre. Leider wurde ihr Wunsch nach Einsamkeit
nicht erfüllt. Ihr Gepäck wurde eben gebracht und in dessen Gefolge betraten
Rosa und ihre neue Zofe Odette ihr Gemach.
„Ich
verlasse Euch nun, da mir die hohe Ehre zuteil wurde, nach Versailles zum
Coucher des Königs eingeladen worden zu sein. Morgen früh werdet Ihr ebenfalls
nach Versailles reisen. Graziano wird Euch dorthin geleiten. Am Abend findet dort
ein Ball statt in dessen Verlauf Ihr seiner Majestät vorgestellt werdet. Zu
diesem Anlass werdet Ihr das Kleid tragen. Der Schneider steht bereit, um den
Sitz anzupassen.“ Mit diesem Hinweis verabschiedete sich Herzog Carlo und
Emilia atmete innerlich auf. Heute Nacht wenigstens würde sie noch alleine
schlafen. Sie nahm ein Bad und erklärte ihren beiden Zofen anschließend, dass
sie noch ein wenig ruhen wollte. Endlich allein! Sofort trat Emilia auf den
kleinen Balkon hinaus und beugte sich über das schmiedeeiserne Geländer. Wenn
sie alle Laken aneinander binden würde, würde sie ohne Gefahr in den Garten
hinabklettern können. Prüfend glitt ihr Blick zu der hohen Backsteinmauer. Sie
hatte sich nicht geirrt, unmittelbar dahinter floss die Seine. Sie konnte
hören, wie das Wasser gegen die Steine plätscherte. Die Mauer zu erklettern
machte ihr wenig Sorgen, allerdings, falls dahinter nicht zufällig ein Boot
vertäut war – was sie kaum zu hoffen wagte – blieb nur die Flucht über einen
der angrenzenden Gärten. Es war ein Risiko, das sie eingehen musste.
Versailles! Emilia konnte sich gar nicht sattsehen an seinen Wundern.
Wie eine schwimmende Insel aus Licht hatte es sich in der Abenddämmerung vor
ihren Augen erhoben. Unzählige Kerzen in Tontöpfen beleuchteten die mit Sand
bestreute Auffahrtsallee. Darauf drängte sich Kutsche an Kutsche und spuckte
seine elegante Fracht aus. Von der mitteilsamen Odette, die mit ihr fuhr,
wusste sie, dass das Versailler Schloss bis zu eintausend Höflinge beherbergte.
Alle schienen heute Nacht hier zu sein. Die Freitreppe funkelte von
juwelengeschmückten Paaren in prächtigen Kleidern. Bevor Emilia am Hof
eingeführt und dem König wie auch dem Dauphin und der Dauphine vorgestellt
werden konnte, hatte sie noch ein kurzes Tête-à-tête mit dem Zeremonienmeister des Königs
zu absolvieren. Hochnäsig und so steif, als hätte er als Kind einen Stock
verschluckt, erklärte ihr dieser, wie das Zeremoniell genau vonstatten gehen
würde, was sie dabei zu tun und wie sie sich zu verhalten hatte. Das Kind in
Emilia war versucht, ihn hinter seinem Rücken nachzuäffen und ihn zu fragen, ob
sie eine bestimmte französische Atemtechnik anwenden sollte, oder ob es
genügte, normal ein- und auszuatmen.
Am Arm ihres
Gatten betrat sie das Kabinett des Königs und versank wie vorgeschrieben in
einen tiefen Knicks, zwei weitere folgten, dann endlich stand sie vor dem
König. Dieser empfing sie mit den üblichen, nichtssagenden Worten bei Hofe, die
seine Entzückung zum Ausdruck bringen sollten. Dann vollzog sich das gleiche
Ritual vor dem Dauphin und seiner Gemahlin, die ebenfalls - huldvoll wie
Statuen - geruhten, einige Worte an sie zu richten. Dann verließ Emilia rückwärtsgehend
den Saal, erneut durch drei Hofknickse begleitet. „Ihr habt Euch sehr gut
gemacht. Eure Schönheit und Anmut haben seine Majestät sichtlich beeindruckt“,
bemerkte der Herzog im Vorzimmer des Königs zu ihr.
Emilia fand
sich weniger beeindruckt. Sie hatte keine Regung in dem unnahbaren
Gesichtsausdruck des Königs feststellen können, die eine solche Deutung zuließe.
Im Gegenteil, er hatte seiner eigenen Marmorbüste geglichen, die im Vestibül
des Hotel Bellevue aufgestellt war. Offenbar hatte auch sie sich inzwischen so
sehr von dem Gerede über Glanz, Glorie und Fama des Königs von Frankreich beeinflussen
lassen, dass sie die Begegnung mit ihm als absolut ernüchternd empfand. Sie
ähnelte fatal der enttäuschenden Erfahrung, als sie das erste Mal die Kommunion
aus der Hand des Pfarrers von Santo Stefano erhalten hatte, dabei vergeblich
darauf wartend, dass endlich der jahrelang angekündigte Heilige Geist in sie
fuhr. In ihren Augen war Ludwig der XV. ein älterer Herr mit einer grauenhaft
hässlichen Perücke, der irgendwann in seinem eigenen steifen Hofzeremoniell erstarrt
sein musste, wenn er nicht schon so geboren worden war.
Carlo führte
sie in den hell erleuchteten Saal, in dem das
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