Das Hexenkreuz
nach Verwesung
entgegen. Hastig traten sie den Rückzug an und stolperten in die frische Luft
hinaus. „Puh“, machte Emilia und schüttelte sich vor Ekel. „Ein Glück, dass es
schon dunkel ist. Ich denke nicht, dass wir herausfinden möchten, was da drin
einmal lebendig war. Glaubst du, wir könnten ein Feuer entfachen?“
„Auf jeden
Fall. Ich bleibe hier sicher nicht, ohne eine schöne Verteidigungsfackel zur
Hand zu haben“, erwiderte Serafina grimmig. Argwöhnisch behielt sie die nahe
Waldgrenze im Auge, als erwartete sie, dass jeden Moment dunkle Horden daraus
hervorbrechen würden.
Emilia lächelte. „Ah, die Bären?“
„Ja, und die
Wölfe nicht zu vergessen. Komm, gehen wir Holz sammeln. Der letzte Frühjahrssturm
hat genug davon über das Plateau verteilt.“
Eine halbe
Stunde später kampierten sie unter dem klaren Sternenzelt. Sie hatten ihr Lager
rechts von der Höhlenöffnung aufgeschlagen und Serafina hatte ein schönes Feuer
in Gang gebracht. Sie tranken Kräutertee und verzehrten hungrig das Brot mit
dem letzten Ziegenkäse. Dazu gab es getrocknete Feigen – ein weiterer Schatz,
den Serafina aus ihrer Satteltasche hervorgezaubert hatte. Emilia hatte
inzwischen ihre feuchten Sachen zum Trocknen über einen mageren Busch drapiert.
In die rotsamtene Satteldecke gehüllt saß sie am Feuer. Serafina betrachtete
ihre Freundin durch das Flackern der Flammen hindurch. Emilia hatte ihren
dicken Zopf gelöst und das dichte Haar floss ihr in sanften Wellen bis zur
Taille herab. Serafina fand ihre Freundin in diesem Moment beinahe beängstigend
schön. Konnte soviel Schönheit ein ruhiges und freies Leben führen? fragte sie
sich. Würde Emilias Schönheit nicht die Begierde vieler wecken, sie zu
besitzen? Plötzlich überkam sie die Vorahnung künftigen Kummers. Um das
unangenehme Gefühl zu vertreiben, flüchtete sie sich ins Scherzhafte: „Du
siehst aus wie eine Königin. Es fehlt nur noch der Hermelinbesatz.“
„Ja, und ein
Volk, das mir huldigt“, ging Emilia lächelnd darauf ein. Sie trank ihren Tee in
ganz kleinen Schlucken, um seine wohltuende Wärme so lange wie möglich zu
genießen. Sie stellte den leeren Becher ab, streckte die langen Beine aus und
lehnte ihren Kopf zurück. Eine Weile versank sie in der Betrachtung des sternenübersäten
Himmels. Die Sichel des Mondes schwamm in einem dunstigen Lichtkreis über dem
Berg.
„Denkst du
wieder daran, wie es auf dem Mond aussieht?“, fragte Serafina sie nach einer
Weile.
„Nein, ich
denke an meinen Vater.“
„Bereust du,
ihn im Zorn und ohne ein Wort des Abschieds verlassen zu haben?“
„Nein, es
musste sein. Niemals hätte er mich freiwillig ziehen lassen. Ich frage mich nur,
ob er auch an mich denkt.“
„Sicher
denkt er an dich. Er ist dir sehr zugetan.“
„Ich habe
nie an seiner Liebe gezweifelt, Serafina, und auch nicht, dass er das Beste für
mich wollte, aber…“ Emilia rang nach den richtigen Worten, „…aber ich bin so
enttäuscht von ihm. Er hat nicht einmal den Versuch unternommen, mich zu
verstehen. Es war sein Entschluss und damit basta! Du hättest seinen geringschätzigen
Ausdruck sehen sollen, als ich versuchte ihm zu erklären, dass ich über mein
Leben selbst bestimmen möchte. Als hätte er nie zuvor etwas derart
Verwerfliches aus dem Mund einer Frau vernommen. Warum ist es so verachtenswert,
wenn eine Frau wagt, sich Rechte auszubedingen, die für Männer so völlig
selbstverständlich sind?“
„Was hast du
erwartet? Er ist ein Mann und dein Vater. In seinem männlichen Universum
bedeutet das, dass du ihm in doppelter Hinsicht Gehorsam schuldest. Er folgt
einem sakrosankten Gesetz. Laut diesem Gesetz bist du sein Besitz, Emilia. Jemand,
über den er nach Belieben verfügen kann.“
„Und darum
löst er mich wie einen Schuldschein ein und zwingt mich, einen wildfremden Mann
zu heiraten? Dabei müsste gerade mein Vater die Macht der Gefühle kennen,
schließlich leidet er selbst darunter! Seit dem Tod von Mutter ist er nicht
mehr wiederzuerkennen. Und er ist tief enttäuscht über Piero, der einmal sein
ganzer Stolz gewesen ist. Papa hat alle seine Träume begraben müssen. Das Schlimmste
ist, er benimmt sich dabei, als hätte er mir mit dieser absurden Verlobung ein
Geschenk bereitet!“
„Wenn du es
von seiner Warte aus betrachtest, verhält es sich tatsächlich so: Eine Verbindung
mit einem sagenhaft reichen Ehemann von altem Adel. Was kann sich ein Vater
Besseres für seine Tochter
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