Das Hexenkreuz
Stimme
versagte kurz. Er räusperte sich, bekam sich wieder in die Gewalt und fuhr tapfer
fort: „Dann haben zwei der Männer ihn hinter einen Busch gezerrt und ihm etwas
sehr Böses angetan. Ich hörte, wie er schrie und gar nicht mehr damit aufhörte.
Es war so furchtbar, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Später haben sie
ihn mitgenommen. Wir haben Antonino nie wieder gesehen. Papa hat sich an den
Sergeanten der Polizei gewandt. Aber anstatt ihn anzuhören, wurde er verprügelt
und wegen Verleumdung eingesperrt. Meiner Mutter hat das Ganze das Herz
gebrochen. Sie ist gestorben, während Papa im Gefängnis saß.“
Das
furchtbare und unbekannte Schicksal Antonios entsetzte die beiden jungen
Frauen. Mit einem Schauder gedachten sie der beinahe identischen Geschichte,
die ihnen der kleine, gefräßige Hirte über seinen Freund erzählt hatte, dessen
Bruder ebenfalls durch die herzoglichen Soldaten verschleppt worden war.
Inzwischen
hatten sich die letzten Sonnenstrahlen hinter den Bergen zurückgezogen.
Serafina mahnte zum Aufbruch. Emilia und sie hofften darauf, bis zum Morgen in
Tivoli zu sein. Filippo, wieder ganz der Alte, bot ihnen eifrig an, sie auf
sicherem Wege bis dorthin zu begleiten. „Bis Tivoli kenne ich mich aus. Danach
müsst ihr Euch alleine zurechtfinden“, warf er sich in die schmale Brust.
„Und was
wird uns das kosten?“, schmunzelte Emilia über soviel kindliche
Unternehmungslust.
„Nichts. Ihr
habt mich doch schon bezahlt. Mein Vater sagt, dass die Gier eine Krankheit
ist, die den Keim der Vernichtung bereits in sich trägt“, zitierte Filippo
würdevoll.
Marcello,
der Ältere, nickte anerkennend zu seinen Worten.
„Danke“,
erwiderte Emilia schlicht. „Ihr seid wahrlich rechtschaffene Leute. Möge Gott
mit Euch sein und Euch mit einem gesunden Kinde segnen.“
Graziella
ließ es sich nicht nehmen, ihnen einen Beutel mit Proviant mitzugeben. Sie
brachen auf. Filippo führte sie parallel zum Aniene nach Westen. Sie mieden den
eigentlichen Uferweg und folgten ihm auf verborgenen Pfaden. In der mondhellen
Nacht kamen sie gut voran. Gegen Mitternacht legten sie eine Rast ein und aßen
mit Genuss Graziellas in der Grotte gereiften Käse. Filippo erzählte ihnen,
dass sein Vater ursprünglich aus dem südlicheren Sulmona stammt, der Stadt
Ovids. Die Liebe zu seiner verstorbenen Mutter hätte ihn in die Gegend von San
Francesco verschlagen. Emilia und Serafina mussten an dieser Stelle beide schmunzeln.
Sie fanden es drollig, wie Filippo das Wort Liebe aussprach - als verstünde er
die Liebe als eine Macht, der mit Ehrfurcht zu begegnen sei.
„Sprichst du
von Ovid, dem großen altertümlichen Dichter?“, hakte Emilia nach.
„Aber
natürlich! Papa kann seine Werke auswendig zitieren. Mama hat früher immer
gesagt, er würde von ihm abstammen. Er dichtet selbst gern, spricht aber nicht
darüber. Er sagt, dass in jedermann etwas Kostbares steckt und dass wir dies
erkennen müssen. Darum hat er auch allen meinen Brüdern und Schwestern
ermöglicht, die Schule zu besuchen. Er sagt, Wissen und Bildung ist der
Schlüssel zu allem. Das mache den Menschen wirklich frei.“
Noch vor
Sonnenaufgang erreichten sie auf der alten Via Tiburtina Valeria den Nordosten
Tivolis. Die Römer hatten sie wie alle ihre Straßen nach ihren simplen, aber höchst
effektvollen Gesichtspunkten erbaut: Ihre Legionen sollten sich rasch von A
nach B bewegen können und Nachschub und Handel sollten gewährleistet sein. Die
Via Tiburtina verlief von Rom aus quer durch das Land, am Fuciner See vorbei,
dem ersten von Cäsar und Claudius trockengelegten See der Antike, um dann in
Pescara, dem alten Aternum an der Adriaküste, zu enden.
Die letzte
halbe Stunde ihrer Reise hatte sie das stetig zunehmende Rauschen der
Wasserfälle von Tivoli begleitet. Die vorletzte Etappe war geschafft. Nicht
weit von ihnen stürzte sich der wilde Aniene über einen Felsabbruch der Sabiner
Berge in eine tiefe Schlucht. Bereits die römischen Kaiser Augustus und Hadrian
wussten das Klima, die natürlichen Thermen und die reizvolle Landschaft rund um
die Stadt Tivoli zu schätzen. Sie ließen sich dort prächtige Villen erbauen und
die Dichter Horaz, Catull und Vergil folgten ihrem Beispiel.
„Ich werde Euch
nun verlassen“, verkündete Filippo. „Folgt einfach weiter dem Verlauf der Via
Tiburtina. Sie wird Euch geradewegs nach Rom führen. So Gott will, könnt Ihr
die Stadt schon morgen Abend erreichen.“
„So Gott
will und
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