Das Hexenmal: Roman (German Edition)
Abwechselnd drückte er die Verdickungen und murmelte: »Keuschheit, Armut, Gehorsam. Keuschheit, Armut, Gehorsam …«
Ans Armsein war er gewöhnt. Schon zu Hause hatte er nie genug zu essen bekommen und musste des Öfteren Hunger leiden. Genau wie jetzt, denn nicht jeder Bauer teilte sein karges Mahl mit den Bettelmönchen. Armut beinhaltete aber nicht nur wenig zu essen zu haben, sondern auch keinen Besitz sein Eigen zu nennen. Beim Eintritt in den Franziskanerorden hatte Burghard alles von sich gegeben, was er bis zu diesem Zeitpunkt besessen hatte. Viel war es zwar nicht gewesen, doch nun besaß er noch nicht einmal mehr den Namen, den ihm seine Mutter bei seiner Geburt gegeben hatte – Christian. Vom ersten Tag an im Kloster musste er sich Burghard nennen. Leise seufzte der Junge.
Auch mit der Keuschheit wusste er umzugehen. Schließlich konnte man nichts vermissen, das man noch nicht kennengelernt hatte. Allerdings war nicht zu leugnen, dass sich das Gefühl, das sich manchmal in seinen Lenden ausbreitete, nur schwer unterdrücken ließ. Doch er fand Erleichterung im Gebet und konnte auf diese Weise seine unkeuschen Gedanken bekämpfen.
Was Burghard allerdings am schwersten fiel, war die Einhaltung des absoluten Gehorsams. Er war ein Mensch, der wissbegierig war und alles hinterfragte. Etwas zu tun, nur weil es ein anderer so wollte, war für ihn auch nach zwei Jahren als Anwärter noch immer nicht leicht. Sehr oft musste er seine Fragen und Zweifel hinunterschlucken. Zwar war es nicht verboten, einem Befehl kritisch gegenüberzustehen, doch Burghard wusste, dass es wenig Sinn hatte. Servatius wäre zwar bereit, ihm eine Erklärung
für seine Auffassung zu geben, aber so, dass er den Sinn der Begründung nicht verstehen und ein schlechtes Gewissen bekommen würde. Und hinterher würde er sich unwohl fühlen, und wieder einmal aufs Neue von starken Kopfschmerzen geplagt werden.
Burghard war sogar der Meinung, dass es dem älteren Bruder Freude machte, wenn er sich in Bedenken wand. Allein der stechende Blick aus den dunkelbraunen Augen in dem hageren Gesicht des älteren Franziskaners verfolgte den Jüngeren bis in seine Träume.
Des Öfteren hatte Burghard Servatius gebeten, ihn von den Hexenprozessen auszuschließen. Doch Servatius zeigte sich unnachgiebig und hatte befohlen, dass Burghard sodann den Folterungen der angeblichen Hexen beiwohnen musste, schließlich konnte ja eine der vermeintlichen Hexen, bedingt durch die Qualen, ihr Gewissen erleichtern wollen. Bei diesem Gedanken lief es dem Jungen eiskalt den Rücken hinunter, es schauerte ihn regelrecht. Er holte tief Luft und versuchte, die Erinnerungen an die Schreie der Frauen zu verdrängen, was ihm aber nur schwer gelang. Um sich abzulenken, ließ er seinen Blick in die nähere Umgebung schweifen.
Das Gras der scheinbar unendlichen Wiesenflächen war saftig grün und hoch genug, sodass es bald geschnitten werden konnte. In der Ferne sah er auf einer Koppel die jungen Fohlen übermütige Sprünge vollführen. Über dem Land schien Ruhe und Frieden zu liegen. Als der Junge am Wegesrand wilde rote Erdbeeren erspähte, verspürte er Hunger und Durst. Im Gehen pflückte er einige und steckte sie sich sofort in den Mund, damit sein Bruder es nicht bemerkte und er nicht mit ihm teilen musste. Süß schmeckten die Früchte, doch leider waren es zu wenige, um seinen Hunger zu stillen. Aber sie weckten Erinnerungen in ihm. Bilder seiner Kindheit wurden wach, und er sah den elterlichen Hof vor sich.
Er hatte schon so lange nicht mehr an seine Eltern und seine Geschwister gedacht. Seitdem Bruder Kuno ihn mit auf Wanderschaft genommen hatte, hatte er seine Familie nicht mehr gesehen. Wie es ihnen wohl gehen mochte? Ob der Vater dieses Jahr eine gute Zwiebelernte erwirtschaften würde?
Burghard schritt weiter voran und verlor sich in Erinnerungen an sein früheres Zuhause …
»Christian, hast du die Kuh schon gemolken?«
»Ja, Mutter, ich bringe dir sofort die Milch.«
Der vierzehnjährige Christian brachte den gefüllten Eimer in die Küche, wo ihn ein würziger Duft empfing. Seine Mutter zerteilte gerade ein Suppenhuhn, um damit die Hühnerbrühe anzureichern. Nur selten konnten sie sich Fleisch leisten, doch ihr Mann hatte dem Pfarrer einen Gefallen getan, und das Huhn war die Entlohnung gewesen.
Heute am Sonntag ruhte die Arbeit, und jeder freute sich auf das Mittagessen.
Christian überquerte gerade den Hof, um seinen Vater zu rufen, als ein
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