Das Hexenschiff
normal sehen.
Es hatte sich etwas verändert.
Die Ruderbänke an beiden Seiten der Bordwand waren nicht mehr leer, sondern besetzt. Nicht von Sklaven, wie man auf so einem Schiff hätte erwarten können, sondern von normalen Menschen. Leute, die in unsere Zeit hineinpaßten.
Das waren die Bewohner von Kelgin. Männer und Frauen. Sie hingen in den Ketten wie wirkliche Sträflinge, denn die Hexen hatten sich schon jetzt an ihnen gerächt.
Durch Peitschenhiebe war die Kleidung der meisten zerfetzt. Lappig hing sie an den blutigen Stellen am Rücken fest. Die Gesichter waren von Schmerz gezeichnet, die Augen ohne Hoffnung, die Menschen mußten schon Schlimmes hinter sich haben. Die meisten von ihnen sahen mich. Ob sie mich überhaupt wahrnahmen, konnte ich nicht sagen. Zu stumpf und apathisch waren ihre Blicke. Die Männer und Frauen, deren Vorfahren das gleiche mit den Hexen gemacht hatten, besaßen nur einen geringen Bewegungsspielraum, den ihnen die Ketten ließen, mit denen man sie an die Ruderbänke gefesselt hatte. Gerade so viel, daß sie die schweren Ruder bewegen konnten. Zorn und Wut stiegen in mir hoch, als ich das Bild des Jammers sah. Ich schwor mir, es der verdammten Hexenbrut heimzuzahlen. Für jeden Menschen sollten sie büßen.
Mir fiel erst jetzt auf, daß ich Esmeralda nicht mehr sah. Die Hexe mußte sich zurückgezogen haben, nachdem sie ihre Kräfte ausgespielt hatte. Irgend etwas wollte sie, hatte sie vor, aber was?
Die Antwort bekam ich sehr schnell, als ein Windstoß in die Wolken hineinfuhr und eine Lücke riß, so daß mein Blick die Aufbauten des Bootes treffen konnte.
Dort stand Esmeralda.
Nur war sie nicht allein. Sie hatte sich eine Geisel genommen. Einen Mann, der vor Angst fast verging. Er war kleiner als ich, trug eine Brille, und ich sah seinen Oberlippenbart. Das Gesicht wirkte wie mit einer Schicht Käse Übergossen. Die Augen hatten einen stumpfen Ausdruck angenommen, die Kleidung bestand ebenfalls nur mehr aus Fetzen, und aus den Wunden sickerte Blut.
Man hatte diesen Menschen gefoltert!
Esmeralda hielt ihn in ihrem Griff. Sie mußte ihn halten. Er wäre wahrscheinlich zusammengesackt, weil er einfach nicht mehr die Kraft besaß, sich auf den Beinen zu halten.
Ich wollte nicht so recht daran glauben, daß der Mann aus Kelgin stammte. Irgendwie paßte seine Kleidung nicht zu der der anderen Menschen aus dem Ort. Sie war moderner. Das erkannte ich, obwohl sie nur mehr aus Fetzen bestand.
Esmeralda lachte schrill, bevor sie anfing zu sprechen. »Er hat auch gedacht, er wäre stärker als wir Hexen. Sein Irrtum wird für ihn tödlich sein!«
»Stammt er nicht aus Kelgin?« fragte ich laut.
»Nein!«
»Dann hat er mit euch nichts zu tun!«
»O doch. Er hat etwas mit uns zu tun. Er wollte sich gegen uns stellen. Er griff mich mit einem Gewehr an. Wer so etwas macht, ist des Todes. So steht es im Gesetz der Hexen!«
»Laß ihn laufen!«
»Nein! Ich werde ihn ebensowenig freilassen wie dich, John Sinclair! Gnade kennen wir nicht.«
»Das habe ich bereits bemerkt. Mit dem Blutregen fing es an, dann kam das Schiff…«
»Hast du den Regen gesehen?«
»Leider.«
»Er kündigt uns an. Es ist das Blut der toten Hexen. Dämonenblut. Wenn es auf die Erde fällt, werden die Menschen irgendwann in seinen Bann gezogen und ebenfalls dem Bösen zugetan. Das werden die Zurückgebliebenen noch zu spüren bekommen. Ich verspreche es dir!«
Sie redete, und ich sah ein, daß ich sie mit Worten nicht überzeugen konnte.
Da halfen nur Taten!
Mit einem Angriff rechnete wohl keine der Hexen. Deshalb glaubte ich daran, daß ich die Sekunde der Überraschung auf meiner Seite hatte. Ich startete! Wenig später überschlugen sich an Bord die Ereignisse!
***
Die vier anderen Hexen störten mich nicht, da sie hinter mir standen. Ich hatte nur Augen für Esmeralda, die wie eine Königin auf dem Aufbau stand und ihre Geisel umklammert hielt.
Meine Schritte hämmerten auf den Planken, ich sah die Treppe vor mir und hoffte, daß sie mein Gewicht halten würde.
Drei Sprünge brauchte ich, um die Stufen zu überwinden. Beim vierten tauchte ich vor der Hexe und deren Geisel auf.
Sie schrie mir ihre Wut über meine Aktion entgegen und griff gleichzeitig an.
Hexenkräfte durfte man nicht unterschätzen. Sie konnten alles schaffen, sogar die Welt verändern.
Nicht mit mir!
Ich hatte mein Kreuz!
Plötzlich sah sie das Zeichen, das selbst der Teufel so fürchtet, und ich hörte einen Schrei, der
Weitere Kostenlose Bücher