Das Hiroshima-Tor
nicht gelungen war, Sally Nishikawa zu erreichen. Schon früh am Morgen hatte er von Warschau
aus versucht sie anzurufen. Vergebens. Gleich nach seiner Ankunft in Barcelona war er zu ihrer Wohnung in der Carrer de Valldonzella
gefahren, aber niemand hatte sich auf sein Klingeln gemeldet. Darum hatte er beschlossen, ihren Arbeitsplatz aufzusuchen und
sich mit ihren Kollegen zu unterhalten, bevor er entschied, was als Nächstes zu tun wäre.
Direkt vor ihm ragte einer der beiden Wolkenkratzer auf, die für die Olympiade 1992 gebaut worden waren. Ziemlich bald nach
seinem Umzug nach Brüssel hatte Timo ein Wochenende mit Soile in Barcelona verbracht. Damals hatten sie einen langen Spaziergang
durch das Art-nouveau-Viertel Eixample gemacht, in den Restaurants von La Barcelonata die Köstlichkeiten der katalanischen
Küche genossen und ein Konzert im Palau de la Música Catalana besucht, nur um die riesige, bemalte Glaskuppel des Konzertsaals
zu sehen.
Kurz vor dem Hochhauskoloss bog Timo zur Uferpromenade ab. Er wurde mit jedem Augenblick nervöser, obwohl das Meer vor ihm
majestätisch und in beruhigendem Blau schimmerte. Die Palmen, die Cafés, der Bootshafen und die Strände erinnerten an einen
Urlaubsort. Das ansprechende, gepflegte Areal war anlässlich der Olympischen Spiele geschaffen worden, weshalb es nicht verwunderte,
dass es etwas Künstliches an sich hatte. Trotz allem hätte Timo lieber im mittelalterlichen Krakau gelebt.
Sogleich sprangen seine Gedanken zu Zeromski. Dann dachte er an Aaro und blieb vor einem Restaurant stehen. Er rief in Porvoo
an, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung war. Schon |293| die wenigen Sätze, die er mit seinem Sohn über alltägliche Dinge wechselte, halfen ihm, den Stress in den Griff zu bekommen.
Das
ICM
, das
Institut de Ciències del Mar
, befand sich an einem Paradeort beim
Maritim de la Barcelonata
. Timo ging an Palmen vorbei eine breite Treppe hinauf und betrat das moderne Gebäude aus Stahl und Glas. Er durchquerte die
helle Eingangshalle und suchte das Café mit dem gläsernen Dach auf, um dort auf Sally Nishikawas Kollegin Maria Aguilar zu
warten. Lautes Stimmengewirr und das Klappern von Geschirr erfüllte den Raum. Eine Wand wurde von einer Plexiglaskonstruktion
gebildet, die das Leben unter Wasser darstellte, an einer anderen Wand befand sich ein kleiner Laden, der Kitsch zum Thema
Meeresforschung verkaufte: mit Wasser gefüllte Halbkugeln, in denen statt Schneeflocken bunte Plastikfische schwammen, Schlüsselanhänger
aus Korallen, T-Shirts , Poster mit imposanten Tiefseefischen.
Er saß kaum, da erschien eine kleine, braun gebrannte Frau, der er am Telefon gesagt hatte, sie erkenne ihn an den schwarzen
Augenringen, den Bartstoppeln und der zerknitterten Jacke. Allerdings trat auch Frau Aguilar nicht sonderlich trendbewusst
auf. Sie trug ausgewaschene Jeans, Birkenstock-Sandalen und einen kurzen, pflegeleichten Haarschnitt.
Timo gab der misstrauisch wirkenden Frau die Hand.
»Warten Sie einen Moment, ich hole mir etwas zu trinken«, sagte sie auf Englisch mit spanischem Akzent.
»Ich kann ...«, fing Timo an, aber sie war schon auf dem Weg zur Theke.
Timo setzte sich und beobachtete die anderen Gäste, die alle aussahen wie Wissenschaftler oder Studenten. Frau Aguilar kam
mit einem Glas Orangensaft zurück.
»Ich verstehe nicht, was los ist«, sagte sie, nachdem sie sich an den runden Aluminiumtisch gesetzt hatte. »Wie ich schon
am Telefon sagte, hätten wir heute Morgen eine Teambesprechung haben sollen, aber die wurde abgesagt, weil Sally nicht gekommen
ist. Durch Ihren Anruf sieht alles irgendwie ... Besorgnis erregend aus.«
|294| Timo war sehr vorsichtig gewesen und hatte gerade so viel verraten, dass die Frau ihm die Ernsthaftigkeit seines Anliegens
abnahm. Jetzt redete er so leise, dass sie sich zu ihm herüberbeugen musste, um ihn zu verstehen.
»Soll ich mal in ihre Wohnung gehen?«, fragte sie, nachdem Timo fertig war.
»Haben Sie denn einen Schlüssel?« Timo war überrascht.
»Ich füttere ihre Fische, wenn sie auf Reisen ist. Sie verbringt ihren Urlaub immer in Südafrika.«
»Gehen wir«, sagte Timo sofort und wollte aufstehen, aber die Frau hob die Hand.
»Noch nicht. In einer Viertelstunde. Ich warte auf eine wichtige E-Mail , und danach muss ich kurz telefonieren.«
»Könnten Sie mir vorher noch ein paar Fragen beantworten?«
»Schießen Sie los.«
»Was wissen Sie über
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