Das Hiroshima-Tor
erfuhren?
|305| Er legte das Telefon aus der Hand. In seinen Adern pulsierte die altbekannte, von Angst durchsetzte Energie. Allmählich, nachdem
er lange im Dunkeln getappt hatte, bekam er das Gefühl, sich auf etwas Konkreteres zuzubewegen.
Er ging wieder zur Rezeption und bat darum, erneut ins Internet zu dürfen. Die Frau war nicht mehr so freundlich wie zuvor,
wahrscheinlich befürchtete sie, der Gast aus Finnland könnte zur Plage werden.
Timo schrieb in das Eingabefeld der Suchmaschine den Namen, den Zeromski erwähnt hatte: WISŁAWA S. Das genügte. Wisława Szymborska war eine Dichterin aus Krakau, die 1996 den Nobelpreis bekommen hatte. Das erklärte, warum
ihm der Name entfernt bekannt vorgekommen war.
Warum hatte Zeromski davon gesprochen, er habe Nishikawa ein Buch der Szymborska gegeben? Hatte das irgendeine Bedeutung?
Als Nächstes versuchte Timo es mit Informationen über den Teilchenphysiker Yoshima Nishikawa, stieß dabei aber auf zwei Probleme:
die japanische Sprache und die Tatsache, dass Nishikawas Lebenswerk ins Zeitalter vor dem Internet fiel.
Er fand einige Links, aber die erwiesen sich allesamt als Quellenhinweise innerhalb von Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler.
Timo klickte einen Link an und fand darin den Hinweis auf Nishikawas Studie ›Asymmetry in the Early Universe and Violation
of Time Reversal Symmetry‹.
Timo notierte sich den Titel, dazu noch den einer weiteren Veröffentlichung des Japaners.
Dann kehrte er mit wirren Gedanken in sein Zimmer zurück. Der Sprung von der Biologie des Quastenflossers zur Teilchenphysik
schien gar zu groß zu sein.
»Yoshima war Teilchenphysiker
...
Wahrscheinlich weil oder obwohl er seine ganze Familie in Hiroshima verloren hat
. .
.«
Über den Abwurf der Bombe auf Hiroshima wusste Timo einiges, aber in Physik kannte er sich so gut aus wie Einstein in der
Verbrechensermittlung. Soile hatte ihm einmal Stephen Hawkings |306| ›Eine kurze Geschichte der Zeit‹ mitgebracht, aber Timo war nie dazu gekommen, das Buch zu lesen.
Dennoch erinnerten ihn Vater Nishikawas Forschungen an irgendetwas, er kam nur noch nicht darauf, was es war. Er rief Soile
an und fragte, ob sie schon etwas über die bei dem Unfall ums Leben gekommenen Japaner herausgefunden hatte.
»In der kurzen Zeit?«, platzte Soile heraus. »Ich bin nicht mal dazu gekommen, mir zu überlegen, wen ich frage. Ist das so
eilig?«
Timo antwortete nicht, sondern las die Titel der wissenschaftlichen Publikationen von Nishikawa vom Zettel und fragte Soile,
ob sie ihr etwas sagten.
»Seit wann interessierst du dich für Teilchenphysik?«
»Worum geht es da?«, fragte Timo ungeduldig.
»Um Antimaterie.«
Timo schluckte. Das Erste, was ihm bei dem Wort in den Sinn kam, war ein Artikel in ›Die Welt der Technik‹, den er als kleiner
Junge gelesen hatte. Darin war es um eine Weltraumrakete der Zukunft gegangen, die mit Antimaterie betrieben wurde. Als Illustration
hatte ein Künstler ein Bild dazu gemalt.
»Ziemlich theoretisch also«, sagte Timo.
»Wieso? Bei uns am CERN wird Antimaterie mit dem Teilchenbeschleuniger hergestellt. Selbst ein gewöhnlicher Positronen-Emissions-Topograf
basiert auf Antiteilchen.«
Timo schloss die Augen und versuchte seine wild umherspringenden Gedanken in eine vernünftige Ordnung zu bringen. Etwas an
der ganzen Sache klang ausgesprochen ernst und ließ ihn das Interesse des KGB und zweier Supermächte endlich besser verstehen.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte Timo heiser.
»Der Meinung bin ich auch.« Auch Soiles Stimme klang belegt.
Trotz des Gedankengewirrs in seinem Kopf blieb Timo der seltsame Tonfall seiner Frau nicht verborgen. »Ich habe dabei nicht
an deinen Freund gedacht.«
|307| Soile schwieg einen Moment. »Ich will darüber nicht am Telefon ...«
Timo war sich der Sache fast sicher gewesen, hatte aber bis zum Schluss gehofft, sich alles nur einzubilden. Nun war es also
heraus. Ist es Patrick Saari, hätte er am liebsten gefragt.
»Ich auch nicht. Es gibt gerade Wichtigeres.« Timo zwang sich zu einem scharfen Ton. »Fahr dorthin, wo wir letztes Jahr an
unserem Hochzeitstag waren. Wir treffen uns dort heute Abend um zehn.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Tu, was ich dir sage. Miete dir einen Wagen. Sofort.«
Er legte das Telefon zur Seite und befahl sich, aufzustehen und die Papiere und sein schmutziges Hemd in die Tasche zu stopfen.
Dann ging er zur Rezeption. Er
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