Das Hiroshima-Tor
hatte. Anschließend prüfte er in der Datenbank die neu angelegte Datei mit dem Namen SOILE NORTAMO. Unter der Rubrik »Maßnahmen« war neu hinzugefügt worden:
unter Beobachtung
.
Schließlich öffnete Novak das Dokument mit dem Namen YOSHIMA NISHIKAWA, das von Minute zu Minute weiter anwuchs, weil das
Analyseteam in den Vereinigten Staaten permanent weitere wichtige Informationen dort zusammentrug. Mit der Herkunft des Mannes
hatte es etwas Besonderes auf sich. Er |310| stammte aus Hiroshima und hatte dort seine Familie und sämtliche Verwandten verloren.
»Dick«, rief Baumgarten von unten.
Novak loggte sich aus und ging in den Keller. Sally Nishikawa saß jetzt vor einer gekachelten Wand, und Baumgarten breitete
gerade eine große Plastikplane aus, um den Fußboden zu schützen.
Die Frau zitterte am ganzen Leib. »Könnte ich etwas Wasser bekommen?«, fragte sie heiser.
In der Luft lag der starke Geruch von Spiritus. Perry reinigte damit die Elektroden des Apparates, der in den Aluminiumkoffer
eingebaut war.
Baumgarten nahm Schere und Rasiermesser aus der Tasche.
|311| 41
Timo betrat den Friedhof Vallcarca durch das Tor auf der Südseite. Der Friedhof lag im Norden der Stadt, am Rand eines ausgesprochen
grünen Viertels, einen knappen Kilometer von Barcelonas Hausberg Tibidabo entfernt, auf dem eine riesige Christus-Statue in
trauter Eintracht mit dem Fernsehturm aufragte. Hinter den geometrisch geformten Andentannen war eine dunkle Wolkenfront über
dem Meer aufgezogen.
Timo hatte es eilig, nach Frankreich zu kommen, aber etwas bremste seine Schritte. Die Atmosphäre des Ortes hatte trotz der
schönen Blumen etwas Bedrückendes. Die Reihen der Grabplatten schienen sich endlos fortzusetzen.
Er schlug den Weg zum Urnenfriedhof im Schatten der Maulbeerbäume ein. Ein Teil der Urnen war in eine Mauer aus Naturstein
eingelassen, andere waren einzeln in der parkartigen Anlage begraben. Auf einer Gedenktafel konnte man das Relief eines Gesichts
erkennen, eine zierliche junge Frau. In einem anderen Stein war ein Gedichtvers in Handschrift eingraviert.
Timo schritt die Reihe der Grabmäler ab, bis er plötzlich stehen blieb.
Isama Nobu Nishikawa
24. 5. 1953 – 14. 3. 1989
Auf dem korallenartigen Stein war eine helle Urne aus Alabaster befestigt, an deren Randdekor ein Stück von der Größe einer
Fingerspitze fehlte. Die Urne war klein und schlicht, ganz anders als die verzierten Urnen aus etruskischer Zeit, die Timo
im |312| Louvre und im British Museum gesehen hatte, aber es sah so aus, als wäre sie tatsächlich aus Alabaster.
Der Korallenstein trug außerdem eine Messingtafel. Timo bückte sich, um sie besser sehen zu können. Die Tafel hatte eine asymmetrische
Form: die linke obere Ecke war höher als die rechte, wodurch sich fast die Umrisse eines Sägeblatts ergaben. Timo dachte bei
der Form an die Silhouette eines Berges.
Hinter einem Hibiskusstrauch raschelte es. Timo stand auf und fuhr herum. Eine Spanierin beugte sich über ein Grabmal, um
Blumen zu drapieren. Sie sah Timo lächelnd an und nickte. Timos Herz klopfte, er nickte zurück und wandt sich dann wieder
der Gedenktafel zu. Besonders interessierte er sich für eine Gravur auf der linken Seite. Sie erinnerte an die Darstellung
eines biblischen Fisches. Aber das war kein gewöhnlicher Fisch.
Timo holte beim Anblick der stumpfen Form und der überzähligen Flossen tief Luft. Frau Aguilar hatte Recht gehabt, als sie
von Sally Nishikawas Fixierung sprach.
Warum gravierte man einen Quastenflosser in die Gedenktafel? Weil dessen Erforschung das Lebenswerk des Verstorbenen gewesen
war? Oder gab es noch einen anderen Grund? Als Botschaft womöglich? Das würde bedeuten, dass Isama Nishikawa sein Schicksal
erwartet und zuvor festgelegt hatte, was auf der Tafel zu sehen sein soll. In dem Fall war sein Tod nicht plötzlich und unerwartet
gekommen.
Neben dem Namen und der Abbildung war in der Tafel noch ein Gedicht eingraviert: in englischer Sprache und in Anführungszeichen.
Timo schrieb es ab:
Fern auf den Höhen von Huafan
zieht ein Gewitter auf,
es erhebt im Fluss die Wellen gegeneinander.
Die Berührung der Helligkeit
macht den Sand zu Glas
und die Träume zu Asche.
|313|
Eine Stadt am Nullpunkt,
ein Mensch wird geboren
und stirbt.
Das Gedicht sagte ihm zunächst nichts. Oder doch? War darin von Hiroshima die Rede? Die Bombe musste für den Vater wie für
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