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Das Hiroshima-Tor

Titel: Das Hiroshima-Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Brandverletzungen zu lindern. In der Luft lag ein starker, unangenehmer Geruch, der »Geruch von Strom«, von dem ich
     später erfuhr, dass er durch die Ionisierung verursacht wurde.
    Verbrannte Baumstümpfe ragten aus der Erde. Plötzlich fiel eine Wasserperle auf meine Wange, dann eine zweite und eine dritte,
     und bald war die Luft voll von den größten Wassertropfen, die ich je gesehen hatte. Im Nachhinein wurde mir klar, dass es
     sich um verdichtete Feuchtigkeit handelte, die durch den kilometerweit über der Stadt aufgewirbelten Staub und die Hitze herabfiel.
    Immer stärkere Luftströmungen waren zu spüren, obwohl der Morgen windstill gewesen war. Normalerweise blies der Wind nur aus
     einer Richtung, aber jetzt schnellten die Böen nach allen Seiten und schwollen zu einem Sturm an, der Baumstümpfe und Gebäudeteile
     umwarf.
    So schnell, wie er gekommen war, verschwand der Sturm auch wieder. Um mich herum wuchsen die Brände, und ich spürte den Asphalt
     unter meinen Füßen weich werden. Auf einmal begriff ich, dass ich mich in einer Gegend verirrt hatte, durch die ich mein ganzes
     Leben lang gegangen war. Hier gab es keine Häuser und Straßen mehr, sondern nur noch Ruinen.
    Dann sah ich den Platz, auf dem der Asano-Park gewesen sein musste. Ich blieb an der Stelle stehen, wo mein Zuhause gewesen
     war. Dort lagen nackte Menschen, allesamt tot. In ihre Haut hatten sich die Spuren von Schnallen und Knöpfen eingebrannt.
    Mit einem Mal erstarrte ich vor einem Rücken, in den ein vertrautes, ungewöhnliches Blumenmuster eingebrannt war:
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das Lilienmuster des Kimonos meiner Mutter. Später lernte ich, dass helle Textiloberflächen die Hitze reflektierten und dunkle
     sie auf die Haut weiterleiteten.
    Neben meiner Mutter, Hand in Hand mit ihr, lag meine Schwester Hatsuyo und neben ihr mein Vater. Hatsuyo war wenige Wochen
     zuvor sechs Jahre alt geworden.
    In jenem Augenblick konnte ich nichts fühlen. Ich wandte mich ab und ging und ging und ging, bis ich merkte, dass die Ruinen
     aus immer kleiner zermahlenen Stücken bestanden; es gab keine Teile von Wänden mehr, nicht einmal mehr ganze Ziegelsteine,
     sondern nur noch Geröll und schließlich Sand, immer feineren Sand. Die Hitze hielt mich auf, und ich sah, dass der Sand vor
     mir zu Glas geworden war.
    Ich blickte in die Ferne, sah aber nichts mehr, buchstäblich nichts mehr. Was war das für eine Bombe, die alles in Luft aufgelöst
     hatte? Was war das für eine Bombe, die im Bruchteil einer Sekunde Häuser, Bäume und Menschen zum Verdampfen gebracht hatte?
    Das war die Frage, auf die ich die Antwort finden wollte, als wäre alles leichter, wenn man es mit dem Verstand erfassen konnte.
     Niemand kannte damals die Antwort, es gab nur Gerüchte über eine neuartige Benzin- oder Sprenggasbombe.
    Ich verließ die Stadt und ging an den Lebenden und Toten entlang dem Fluss vorbei. Ich blieb nicht stehen, half niemandem,
     obwohl manch leicht Verletzter den Schmerz seines Mitmenschen linderte, indem er wenigstens dessen Lippen mit Wasser befeuchtete.
     Ich konnte die bei lebendigem Leib verbrannten und die sterbenden Menschen nicht ansehen, und für diese Feigheit habe ich
     mich mein Leben lang geschämt.
    In der folgenden Nacht, als der Feuerschein der Ruinen noch immer die Dunkelheit erleuchtete, hörte ich mehr von der seltsamen
     Bombe. Der stellvertretende Leiter des Krankenhauses war ins Kellergewölbe gegangen, wo die Röntgenplatten aufbewahrt wurden.
     Er hatte festgestellt, dass der gesamte Vorrat sich selbst belichtet hatte.
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Am Morgen traf ich einen Lehrer, der Englisch konnte und mit seinem Radio Kurzwellennachrichten gehört hatte. Er hatte eine
     Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten gehört, in der von einer Atombombe die Rede war. Was ist das?, fragte ich den
     Lehrer, aber der wusste es nicht. Etwas Großes und Außerordentliches, denn der Präsident hatte gesagt, die Vereinigten Staaten
     seien das einzige Land, das über das Wissen und die Fertigkeit verfüge, sie zu bauen, und die Bereitschaft besitze, zwei Milliarden
     Golddollar auf ein so unsicheres und ehrgeiziges wissenschaftliches Experiment zu verwenden.
    Das Risikospiel aber war geglückt. Die Uranatome hatten sich auf die erwartete Weise gespalten. Die Atomhölle hatte über 100   000   Menschen getötet, weitere 100   000 verletzt und 62   000   Gebäude zerstört.
    Warum? Warum warfen die Amerikaner die Bombe nicht über einem unbewohnten Gebiet

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