Das Hiroshima-Tor
Woluwe-Parks abgestellt hatte, fünfzig Meter jenseits der Rue Souverain, auf
der er zu Jukka nach Stockel unterwegs gewesen war.
Der beleuchtete Parkplatz lag friedlich da, aber Timo steckte der Zwischenfall mit den Amerikanern schwer in den Knochen.
Würde ihnen das Schweigeabkommen genügen? Würden sie ernsthaft glauben, dass er sich daran hielt?
Er schaltete die Innenbeleuchtung ein und blätterte in Vaucher-Langstons Buch. Vor sich sah er das Gesicht des CI A-Beamten , als dessen Blick auf das Buch auf dem Boden gefallen war. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass Vaucher-Langston
dem Amerikaner etwas sagte. Hätte er das Buch an |146| sich genommen oder sein Interesse zu erkennen gegeben, hätte er Timo damit die Bedeutung des Werks bestätigt. Nur darum hatte
sich der Mann beherrscht. Aber sein Blick hatte ihn verraten.
Timo sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zehn. Am besten wartete er ab, bis Aaro und Jukkas Familie schliefen. Er wollte und
konnte mit niemandem reden, er war einfach zu müde und verwirrt.
In Vaucher-Langstons Buch ging es hauptsächlich um die Karte von Piri Reis. Da Timo sich schon immer für Geschichte interessiert
hatte, war er auch früher schon mal auf dieses Thema gestoßen. Eine Gruppe von Historikern hatte 1929 die auf Gazellenhaut
gezeichnete Karte gefunden. Bei Untersuchungen in den dreißiger Jahren fand man heraus, dass sie bereits im Jahre 1513 von
Piri Reis, einem Admiral der türkischen Flotte, angefertigt worden war.
Die Kartografie war Reis’ Leidenschaft gewesen, und als hoher Offizier war er bis in die Bibliothek von Alexandria gelangt.
Seine Aufzeichnungen bewiesen, dass er seine Karte aus mehreren Quellenkarten kompiliert hatte, von denen ein Teil aus der
Zeit vor Christi Geburt stammte.
Die Karte von Piri Reis zeigte die Westküste Afrikas, die Ostküste Südamerikas und die Nordküste der Antarktis. Seltsam daran
war folgendes: Das Südpolgebiet – die Küstenlinie von Queen Maud Land, samt Flüssen, Buchten, Ebenen, Gebirgen und Wüsten
– war detailliert gezeichnet, obwohl die Region erst dreihundert Jahre später entdeckt worden war.
Noch außergewöhnlicher war die Tatsache, dass die Küstenlinie überhaupt hatte gezeichnet werden können, denn im 16. Jahrhundert war sie – wie auch heute noch – von einer anderthalb Kilometer dicken Eisschicht überzogen gewesen.
Mindestens eine der Quellenkarten von Piri Reis musste demnach angefertigt worden sein, bevor das Eis Queen Maud Land bedeckte.
Allerdings endete die letzte eisfreie Periode in dem Gebiet frühestens vor 6000 Jahren – während sich die ersten |147| bekannten Zivilisationen erst um 3000 vor Christus im Nahen Osten entwickelten.
Wer hätte also die Küstenlinie der Antarktis zeichnen sollen? Oder hatte jemandem eine Technik zur Verfügung gestanden, die
ebenso weit entwickelt war wie heute, da man Karten mit Hilfe von Satelliten erstellte?
Inwiefern hatten Vaucher-Langstons Forschungen mit dem Seine-Material zu tun? Und vor allem: War es möglich, die Echtheit
des Materials durch Vaucher-Langston zu beweisen?
Mit Hilfe der Toten aus der Seine würde es jedenfalls kaum gelingen. Leichen, die nicht identifiziert werden konnten, wurden
immer wieder gefunden, und auch wenn in diesem Fall manches sonderbar war, hatte doch niemand ein spezielles Motiv, sich in
die Ermittlungen hineinzuknien.
Außer den Finnen – falls sich das Material als authentisch erwies. Und den Amerikanern – aus irgendeinem anderen Grund.
Timo blickte sich um. Der CI A-Beamte hatte eiskalt und ruhig eine Morddrohung ausgesprochen. Das war entsetzlich, unfassbar und gegen jedes Gesetz. Aber es war
Fakt, und man sollte das ernst nehmen.
Immer unsicherer, ob er sich noch auf der richtigen Spur befand, las Timo weiter in dem Buch. Darin hieß es, schon vor Vaucher-Langston
habe ein türkischer Marineoffizier 1953 die Karte von Piri Reis zur Analyse an die hydrografische Abteilung der U S-Marine geschickt. Die Amerikaner hatten die auf der Karte benutzte Projektion überprüft und zu ihrer Überraschung herausgefunden,
dass die Karte nicht nur genau war, sondern dass mit ihrer Hilfe sogar die Fehler damals aktueller Karten korrigiert werden
konnten.
Für die Genauigkeit der Karte von Piri Reis gab es nur eine einzige Erklärung: Sie musste auf der Grundlage von Beobachtungen
aus der Luft gezeichnet worden sein oder unter Verwendung von sehr weit entwickelter
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