Das Hiroshima-Tor
Nachricht:
Hallo Soile, lange nichts voneinander gehört. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, was für einen tollen Mann du hast. Er weiß
wirklich, wie man mit einer Frau umgehen muss. Viele Grüße, Heli Larva.
|163| Soile traute ihren Augen nicht. Konnte das wahr sein? War das der Grund für Timos Reise nach Finnland? Sie öffnete das angehängte
Dokument. In einem kleinen Feld erschien ein grobkörniges, bewegtes Bild.
Mit einem jähen Ruck ging Soile mit dem Gesicht näher an den Bildschirm heran. Das Bild war unscharf, aber drei helle Stellen
waren zu erkennen: Timos Gesicht und ...
Schockiert starrte Soile auf die Aufnahme. Vor Wut und Scham und Enttäuschung lief sie rot an.
Dann öffnete sie Google und gab als Suchwort »Heli Larva« ein. Es erschien eine Flut von Links zu Anti-Atomkraft-Seiten. Soile
machte eine nach der anderen auf, bis sie auf ein Bild von Heli stieß.
Die Frau, die da ungeschminkt und im Wollpullover vor einem Holzofen stand, sah aus wie zu Studienzeiten, ihr Alter sah man
nur daran, dass ein paar kleine Rundungen verschwunden waren.
»Heli Larva lebt an der finnischen Südküste in der Nähe von Loviisa, auf einem Stück Land, das sie selbst biodynamisch bewirtschaftet.
Sie gehört zu den führenden Atomkraft-Experten Finnlands«
, hieß es in der Bildunterschrift.
»Sie hat an der Technischen Hochschule studiert und u. a. am Europäischen Institut für Teilchenforschung CERN gearbeitet. Heute ist sie freie Wissenschaftlerin.«
Soile lachte laut. Nicht einmal Goebbels hätte die Tatsachen besser verdrehen können. Heli war gerade mal zehn Monate am CERN
gewesen, das war im Promotionsstudiengang die ganz normale Frist. Sie konnte auf keinerlei Karriere zurückblicken, aber die
Bezeichnung »Wissenschaftlerin« wurde heutzutage offenbar ähnlich flexibel gehandhabt wie der Begriff »Künstlerin«.
In wissenschaftlichen Periodika hatte Heli bislang nichts veröffentlicht, dafür aber umso mehr Propaganda für die Presse verfasst.
Soile klickte einen solchen Artikel an und las ihn – bereit, sich sofort auf jeden Fehler zu stürzen.
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Finnland ist das erste Land auf der Welt, das sich für die Endlagerung von Atommüll im Felsengrund entschieden hat – also
dafür, tödlichen Abfall in der Erde zu vergraben. Nirgendwo sonst wird dieses Verfahren zur Trennung der Rückstände von der
belebten Natur akzeptiert. Im Ausland wundert man sich, wie eine so weit in die Zukunft reichende Entscheidung in Finnland
so schnell und nach so geringer und überdies oberflächlicher öffentlicher Diskussion getroffen werden konnte. Selbst die Atomkonzerne
geben zu, dass sie keine statistischen Voraussagen darüber treffen können, wann die Strahlung des Atommülls aus dem Grundgestein
an die Erdoberfläche dringt.
Diejenigen, die den Abfall in der Erde vergraben, sagen, sie »trennen ihn von der Biosphäre«, indem sie die Kapseln tief genug
versenken. Das ist eine Lüge. Die Biosphäre reicht kilometerweit in die Tiefe. Früher glaubte man, nur bis wenige Meter unter
der Erde gäbe es Leben. Dann fand man die Archaeen, die kein Sonnenlicht brauchen. Erst vor wenigen Jahren stellte man fest,
dass es in der tot geglaubten Erdrinde bis in eine Tiefe von einigen Kilometern von Leben nur so wimmelt. Dort existieren
unterschiedliche Archaebakterien sowie Protozoen, die sie fressen, außerdem Geißeltierchen und mikroskopische Pilze.
Der Müll bleibt auch in der Erdrinde über Hunderttausende von Jahren gefährlich, länger als die Spezies Mensch überhaupt existiert.
Eine Generation, eine Hand voll finnischer Politiker, beschließt, lebensgefährlichen Abfall für Tausende von Generationen
zu entsorgen, ohne volle Gewissheit darüber zu besitzen, wie bald und in welcher Weise dieser Müll aus der Tiefe wieder hervorkriechen
wird.
Nicht einmal die für die Endlagerung zuständige
Posiva AG
kann garantieren, dass der Atommüll nicht zu einem Problem für künftige Generationen wird. Niemand weiß, ob die Atommüllkapseln
Erdbeben oder Felsbewegungen, wie sie etwa durch Eiszeiten verursacht werden, standhalten, ohne beschädigt zu werden. Durch
das Grundwasser, das den gesamten Endlagerungsort
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füllt, können radioaktive Substanzen über Felsspalten an die Erdoberfläche oder ins Meer gelangen.
Jene Politiker, die diese Entscheidung getroffen haben, maßen sich mehr Machtbefugnisse an, als ihnen zustehen.
Alles verdichtet sich
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