Das Hiroshima-Tor
anstanden – unter den jeweils gegebenen Umständen.
Mit gemischten Gefühlen suchte er im Internet nach privaten Sicherheitsfirmen, die in Brüssel tätig waren. Er befürchtete
nicht ernsthaft, keine Stelle zu finden, denn bei seinem Lebenslauf müssten sich eigentlich die Arbeitgeber bei ihm bewerben
und nicht umgekehrt.
Timo wartete, bis der lahme Drucker endlich die Firmennamen und -adressen ausgespuckt hatte. Die wichtigsten Unternehmen der
Branche in Brüssel waren Filialen ausländischer Firmen.
Da tauchte seine Mutter im Zimmer auf. Timo sah an ihren Augen, dass sie geweint hatte. Das irritierte ihn.
»Hier.« Sie reichte ihm einen Zettel, machte auf dem Absatz kehrt und schloss die Tür hinter sich.
Timo hatte seine Mutter seit einer Ewigkeit nicht weinen sehen. Er wusste nicht, was alles hinter der Scheidung gesteckt hatte.
Er wusste auch nicht, ob er mit ihr darüber reden sollte. Sein Instinkt sagte nein – die Initiative musste von ihr ausgehen.
Er blickte auf den Zettel. Die Adresse war in Rekola, einem Stadtteil von Vantaa. Er steckte den Zettel ein, dann nahm er
sein Telefon und rief in Brüssel bei der Firma an, die ganz oben auf der Liste stand.
Ein freundlicher Personalchef notierte seine Angaben und versprach, sich zu melden. Timo rief bei einer zweiten Firma an,
die ihr Büro im teuren Louisa Tower hatte. Dort bat man ihn, direkt mit dem Hauptsitz in London Kontakt aufzunehmen, wo man
auch die Rekrutierung für Brüssel vornahm.
Neben aufkeimender Verzweiflung spürte Timo auch einen gewissen Trotz in sich: Er wollte sich – und warum nicht auch anderen
– beweisen, wie schnell er fähig war, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Er rief in London an und redete lange mit |159| einem Mann, der ernsthaftes Interesse an seinem bisherigen Werdegang zu haben schien.
Schließlich stellte ihn der Mann zu seinem Vorgesetzten durch, mit dem Timo das Gespräch unter vielversprechenden Vorzeichen
fortsetzte. Solche Firmen, die ihre Aufträge hauptsächlich von Versicherungen bekamen, stellten gern ehemalige Mitarbeiter
von staatlichen Organisationen ein: aufgrund der Erfahrung und Kompetenz, aber auch um in ihrem P R-Material die Namen von überzeugenden Organen aufblitzen lassen zu können.
Timo traf eine radikale, aber erleichternde Entscheidung und vereinbarte einen Termin für den nächsten Tag in London. Allein
die Möglichkeit, einen neuen Job zu finden, hob seine Stimmung.
Er buchte einen Billigflug von Tampere nach Stansted, machte dann den Computer aus und ging vorsichtig in die Küche, wo er
seine Mutter vermutete, aber das Haus war leer. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: »Bin im Laden.« Timo beschloss, über seinen
Vater zu schweigen, bis seine Mutter selbst das Thema ansprach.
Er nahm das Buch von Vaucher-Langston aus seiner Tasche und legte sich aufs Bett. Wegen Aaro hatte er am Morgen im Flugzeug
nicht in dem Buch gelesen. Der Junge hätte sich sofort dafür interessiert, aber Timo wollte ihn nicht noch mehr in seine Angelegenheiten
hineinziehen.
Beim Lesen versuchte Timo zu erkennen, inwiefern Vaucher-Langston im Zusammenhang mit dem Seine-Material von Bedeutung sein
konnte. Er hatte früher schon viel über die Mysterien alter Karten gelesen, aber jetzt geriet das Thema in ein völlig neues
Licht. Wollte man beim Anfertigen einer Karte einen Standort festlegen, war das nur möglich, wenn man Längen- und Breitengrad
kannte. Für die Messung des Längengrades war eine hinreichend genaue Uhr nötig, die die Zeit des Vergleichsmeridians anzeigte.
Eine solche konnte aber erst im Jahr 1761 erstmals gebaut werden. Wie war es also möglich, dass auf älteren Karten |160| genaue Längengrade vorkamen, fragte Vaucher-Langston in seinem Buch. Wie war es möglich, dass praktisch die gesamte Erdkugel
schon vor Beginn der technischen Zivilisation kartiert war?
Die Drohungen der Amerikaner und die Fragen von Vaucher-Langston verschlangen sich in Timos Kopf zu einem immer beunruhigenderen,
aber auch inspirierenden Geflecht. Er stand auf, ging erneut ins Internet und nahm weitere Recherchen zu Vaucher-Langston
vor. Er sah sich die Forschungen des Professors genauer an und pflückte sich drei jüngere Wissenschaftler heraus, die zu seinem
engeren Kreis gehört hatten.
Einer von ihnen – Daniel Croës – machte einen interessanten Eindruck. Er untersuchte die Carta Marina aus dem Jahr 1539, auf
der die Strömungen des Nordmeeres exakt
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