Das höllische Ich
sich der Umgebung an. Bisher hatte keiner der Mieter die Wohnung verlassen. Das blieb auch so, als sie vor der entsprechenden Tür stehen blieben. Auf einem Messingschild war der Name Ganzaro zu lesen. Unter dem Schild lugte ein goldener Klingelkopf hervor.
»Bitte schellen Sie zuerst, Ernesto. Ich möchte auf Nummer Sicher gehen, dass wirklich niemand da ist.«
»Natürlich, Mrs. Prentiss.«
Hinter der Tür war kein Laut zu hören. Sie schluckte auch das Echo der Klingel.
Purdy hatte damit gerechnet, dass ihnen niemand öffnen würde. Nach einer Weile nickte sie ihrem Begleiter zu.
Der wusste Bescheid. Er holte die Codekarte hervor und steckte sie senkrecht in einen Schlitz am Türschloss. Für einen Moment leuchtete ein grünes Licht auf, sodass sie freie Bahn hatten. Bequem ließ sich die schwere Tür öffnen, und auch Ernesto wollte eintreten, aber er wurde von Purdy an der Schulter zurückgehalten.
»Bitte nicht. Bleiben Sie draußen.«
»Gut.« Er zog sich zurück. Sein Gesicht hatte alle Freundlichkeit verloren. Es sah angespannt aus, und der Blick zeigte eine gewisse Hektik.
Purdy Prentiss sagte nichts. Hinter sich zog sie die Tür zu und sperrte Ernesto so aus.
Seine Reaktion konnte Purdy gut verstehen. Sie waren bisher durch eine künstlich gereinigte Luft gegangen, und das hatte sich nach dem Eintritt verändert.
Ein anderer Geruch wehte in Purdy’s Nase. Sie schnupperte, dann schluckte sie, schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, und wünschte sich zugleich, einer Täuschung zu erliegen.
Leider war das nicht der Fall.
Diesen Geruch gab es wirklich.
Und sie erkannte ihn, denn sie hatte in ihrer beruflichen Laufbahn schon zu oft in der Pathologie gestanden, wo sie mit dem Geruch konfrontiert worden war.
So rochen Leichen...
Plötzlich schmeckte der Speichel bitter, und als sie ging, glich dies einem vorsichtigen Schreiten. Auf dem Rücken kräuselte sich die Haut. Für die Umgebung und die tolle Ausstattung der Wohnung hatte sie keinen Blick.
Ihr Weg führte nach vorne durch den Flur auf eine Tür zu, die offen stand. Dahinter war es hell, weil das Tageslicht durch das große Fenster fiel und sich ausbreitete.
Sie blieb stehen, als sie die Schwelle erreicht hatte. Ihr Blick fiel in einen Wohnraum. Der widerliche Geruch hatte sich verstärkt. Er schlug fast gegen ihre Lippen und raubte ihr den Atem.
Der Mann und die Frau saßen jeweils in einem Sessel. So drapiert, dass sie sich anschauen konnten, und das über einen längst verwelkten Blumenstrauß hinweg, der auf einem Tisch stand.
Beide waren in ihren Sessel etwas zur Seite gesackt. Aus der Ferne hätte man davon ausgehen können, dass die beiden Menschen mit den rostroten Flecken auf ihren Körpern schliefen, aber das traf nicht zu.
Sie schliefen nicht. Sie waren tot, und das schon seit einiger Zeit, sonst hätte das aus den zahlreichen Wunden ausgetretene Blut nicht eine derartige Farbe annehmen können.
Woher die Fliegen kamen, wusste Purdy nicht. Jedenfalls waren sie da und umschwirrten die Leichen, auf die sie mit vorsichtigen Schritten zuging. Ein Kloß saß in ihrem Hals fest. Sie wäre am liebsten weggerannt, doch hier musste sie aushalten.
Der Geruch war so widerlich, dass sie ihr Taschentuch hervorholte und es vor Lippen und Nase presste. Sie näherte sich den Leichen und schaute sich zunächst die Frau an.
Zahlreiche Messerstiche hatten ihrem Leben ein Ende gesetzt. An den Wunden klebte das rostbraune Blut. Die Haut im Gesicht hatte sich bereits verändert. Sie sah gelblich aus und war an einigen Stellen auch sehr gespannt.
Purdy verließ die Nähe der Frau und ging auf den zweiten Sessel zu. Der Mann sah nicht anders aus. Auch er war von mehreren Messerstichen getroffen worden. Einmal sogar am Hals, wo die Klinge eine besonders große Wunde hinterlassen hatte.
Die Staatsanwältin kannte die beiden Menschen nicht. Aber sie wusste, wer sie umgebracht hatte. Das konnte nur Lou Ganzaro gewesen sein. Der eigene Sohn, der einmal so harmlos gewesen war und sich plötzlich in einen mordlüsternen Killer verwandelt hatte.
Sie war jemand, die das nicht verstand, obwohl sie in der Zelle einige Hinweise bekommen hatte. Aber der normale menschliche Verstand setzte bei derartigen Taten aus. Auch bei einer Staatsanwältin.
Sie wollte sich keine Sekunde länger in dem großen Raum aufhalten. Es gab eine Küche. Dazu musste Purdy zurück in den Flur gehen. Sie trank das Wasser aus dem Kran, wischte sich den Mund ab und wusste,
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