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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Nationalsozialismus zum Tagesgeschäft überzugehen, wirkt ihre brüchige Stimme wie die wahrhaftige Übersetzung dieser Bewegtheit.
    Als einzige Ministerin ist Kristina Schröder zugegen. Im grauen Hosenanzug mit hohem weißen Kragen und Pferdeschwanz stellt sie, wie sie mit Blick auf die schütteren Reihen des Plenums sagt, »in familiärer Atmosphäre« den »Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland« vor.
    Fragil ist sie, gestikuliert, nickt, denkt sichtbar nach, spricht über die Zunahme der öffentlichen Verantwortung in der Kindererziehung, vom Bundeskinderschutzgesetz, den Familienhebammen, der frühkindlichen Bildung, den Kinderrechten. Sie trinkt Wasser, ihre Ohrringe funkeln, die rote Handtasche steht auf dem Sitz neben ihr, mit offenem Mund. Der Kopf der Ministerin liegt schräg, die Hände sind vor dem Schritt gefaltet. Das gerade umstrittenste Kabinettsmitglied agiert verbindlich, zugewandt. Man vermeidet jede Schärfe ihr gegenüber, und so fasst auch sie ihre Antworten freundlich, sagt wiederholt »liebe Frau Kollegin« oder »das, worauf Sie so nett anspielen, bestätige ich Ihnen gerne«.
    Dann geht es um Kinder und Jugendliche, um Internet und Smartphones, um digitale Ungleichheit. Die Jugendlichen, die es betrifft, sitzen auf der Tribüne, sie wissen augenscheinlich noch nicht, dass sie das Thema sind, und die da unten, die ihre Blicke nicht zu ihnen aufheben, wissen es offenbar auch nicht. Die Ministerin referiert die schichtenspezifischen Unterschiede bei der Nutzung des Internets. Es erweise sich leicht als »Verstärker sozialer Ungleichheiten«. Für »Abhängigkeit, Verrohung oder Verschuldung« aber gebe es »empirisch keine Anhaltspunkte«. Doch kann man ernsthaft sagen, durch das Internet habe »das Schriftverständnis« zugenommen, weil heute mehr schriftlich kommuniziert werde, während es früher nur den Brief gegeben habe? Kann man das sagen, ohne von Einbrüchen in der Kultur des Lesens zu sprechen? Oder ist dies schon die Antwort darauf, dass die Jugendpolitik als zu »Problemgruppen zentriert« verstanden worden sei und die Betroffenen zu wenig beteiligt habe? Die sitzen auf der Tribüne und wirken gerade unbeteiligt.
    Schröder hat etwas Flehentliches, steht da wie im Rigorosum, biegt das Mikrophon geräuschvoll, nennt gerne »Heller und Cent«. Sie breitet ihre Hände zu wedelnden Fächern vor der Brust aus, und wenn sie eben noch Kontur zu verlieren drohte, schnellen im nächsten Augenblick synchron ihre Zeigefinger hoch, und sie prononciert: »Ich habe sehr deutlich gemacht.« Ja, sie ringt, sie zeigt Nerven. Es verrät sich an den kleinen Gesten, so, wenn sie unwillig auf das Mikrophon schlägt, als es nicht gleich reagiert.
    Inzwischen haben sich zwei Reihen gefüllt. Die Parlamentarier kommen aus der Mittagspause, doch sind die Tribünen immer noch dichter besetzt als das Plenum. Kristina Schröder spricht zunächst über »sexuellen Kindesmissbrauch«, dann über die aufgewendeten Mittel gegen Rechtsextremismus bei Jugendlichen. Erst auf dem Satz »Diese Bundesregierung ist nämlich der Auffassung, dass es keinen ›guten‹ Extremismus gibt, sondern dass alle Feinde unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekämpft werden müssen« erntet sie einen dünnen Applaus bei einzelnen Abgeordneten der Regierungsfraktionen. Das Kämpferische ist Geste bloß.
    Obwohl die Debatte wegen des großen Interesses um drei Fragen verlängert wird, nimmt FDP -Generalsekretär Patrick Döring sichtbar desinteressiert in der ersten Reihe Platz, redet laut mit seiner Nachbarin, gestikuliert mit der Faust, schlägt sich mehrfach an die Brust, dreht sich demonstrativ in alle Himmelsrichtungen zur Kontaktaufnahme und bündelt die Aufmerksamkeit der Tribüne auf der eigenen Person. Dann wird die Debatte geschlossen, Kristina Schröder ergreift fahrig, schwach beklatscht die rote Tasche und geht.
    Sie arbeitet unter Menschen, die selten echte Fragen stellen, und wenn, dann in Ausschüssen. Im Parlament gibt es kaum Fragen, die dem Informationsbedürfnis und nicht der Bloßstellung oder Polemik geschuldet sind oder als Gefälligkeitsfragen dem Redner der eigenen Fraktion die Ausbreitung seiner Standpunkte erleichtern. Auch in der »Fragestunde« ist dies kein fragendes, skeptisches, selbstkritisches System, sondern ein behauptendes.
    Nur selten öffnet sich ein Spalt in den Zweifel. Dann hält alles

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