Das Hohe Haus
Kameramann schwenkt die Gesichter ab. Noch fünf Minuten. »Die Leute sind total unzufrieden«, sagt der Journalist hinter mir. Der Satz geht so durch die Luft. »Schwierig«, erwidert sein Nachbar. Beide schweigen. Zwei Protokollführer haben ihre Plätze eingenommen. Eine Lehrerin auf der Schülertribüne unterrichtet mit gedämpfter Stimme. Der dritte Journalist kommt. »Pat und Patachon«, sagt er zu denen, die schon sitzen. Noch zwei Minuten. Das Plenum ist fast leer. Die Tribünen sind fast voll. Die Besucher suchen immer noch: Nein, ein Star ist nicht im Raum.
Es ist 13 Uhr. Der Gong ertönt. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse kommt rasch, redet schon im Gehen: »Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Sitzung ist eröffnet.« Es ist, als sei es ihm peinlich, dass wir stehen. Noch erklingt seine Stimme unverstärkt.
Am Anfang steht der Jahresrüstungsbericht. Die Stimme des Auskunftgebenden ist sanft und verbindlich. Es geht um Rüstungslieferungen an den Persischen Golf. Wir hatten das. De Maizière verteidigte sie als Antwort auf die Bedrohung durch den Iran.
Michael Link, Staatsminister im Auswärtigen Amt, sagt nun erst einmal: »Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind vorrangige Handlungsfelder deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.« Er redet gewählt, behutsam. Man hat den Eindruck, die rhetorische Sanftmut wächst, wo es um Rüstungsgüter geht. Auch antwortet er nicht gern, genauer gesagt, am liebsten gar nicht. Lieber streut er Begriffe aus wie »mehr Sicherheit und Stabilität«, »Verhinderung von Proliferation«, »kooperative europäische Sicherheitsarchitektur«, »Konfliktprävention und Postkonfliktbewältigung«, »Gesamtabwägung« und natürlich »Transparenz«. Die Fragenden bleiben stehen, bis sich die Antwort erschöpft hat. Wer sich früher setzt, wird gestisch oder rhetorisch aufgefordert, sich wieder zu erheben. Man hält auf Etikette in den Abläufen, so monströs die Inhalte auch sind. Denn wie will man den »Vorrang« der »Nichtverbreitung« von Waffen einem Land erklären, das drittgrößter Waffenexporteur der Welt ist? Durch Desinformation oder durch Lüge?
Als Jan van Aken ( DIE LINKE ) in Jeans und Kapuzenpulli vom Treffen mit den Abrüstern im Sudan berichtet und schließlich wissen will, wie viele Waffen in Libyen konkret eingesammelt und vernichtet worden seien – »Ich möchte nämlich die Zahl der abgerüsteten Waffen mit der Zahl der exportierten Waffen vergleichen« –, da zieht der Staatsminister, der diese Aktion eben noch als Regierungserfolg deklariert hatte, es vor, keine Antwort zu wissen, den Erfolg aber weiter zu rühmen.
Die Senioren sind gerade hochgespannt. Man kann sehen, dass einige die Wirkung von Waffen aus eigener Erfahrung kennen, also sitzen sie vorgebeugt, mit der Hand vor dem Mund. Die Blicke der Jugendlichen schweifen. Gerade hat sich der Staatsminister »für eine atomwaffenfreie Welt ausgesprochen«. Die Stimmen dringen in den Raum, manche bemühen sich um Fassung, andere klingen mütterlich: »Ich möchte gerne nach der Glaubwürdigkeit der Bundesregierung fragen.«
Diese steht auch einen Tagesordnungspunkt weiter zur Debatte, verlangt aber eine andere Sensibilität, geht es doch hier um einen unrühmlichen Fall von Bürokratie, um »Menschen, die anerkanntermaßen freiwillig gegen Entgelt in einem Ghetto gearbeitet haben«. Nach einer Ablehnung von Entschädigungsleistungen in neunzig Prozent der Fälle im Jahr 2002 rang sich die Bundesregierung 2007 zu einer pauschalen Entschädigung in Höhe von zweitausend Euro durch. 2009 änderte sich die Rechtsprechung, weitere Fälle wurden positiv beschieden. Die schon 2002 Berücksichtigten hatten jetzt einen zusätzlichen Anspruch auf die pauschale Entschädigung von zweitausend Euro, die früher nur für Menschen vorgesehen war, bei denen eine entsprechende Rentenleistung abgelehnt worden ist. »Es geht nicht darum, ob ein hochbetagter Mensch eine Rente bekommen soll oder nicht«, erläutert der Staatssekretär, »es geht hier nur um die Frage, ob möglicherweise eine mathematisch neutrale Umstellung erfolgen soll.« Ich verstehe die »mathematisch neutrale Umstellung« nicht, empfinde den juristisch-bürokratischen Sachverhalt als undurchsichtig. Aber was sind das für Debatten, um, wie Ulla Jelpke ( DIE LINKE ) sagt, »hochbetagte NS -Opfer«, »die möglicherweise nicht mehr erleben, dass sie zu ihrem Recht kommen«?
Man kann fühlen, dass die
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