Das Hohe Haus
Was er vorbringt, lässt eher auf einen Verteidigungsminister denn auf einen entwicklungspolitischen Humanisten schließen. Nur eine Formulierung zuletzt verrät den wahren Stand der Erregung: »Ich bin es leid, so zu tun, als hätte die BRD keine Interessen.« Dass er etwas »leid« ist, sagt er zum wiederholten Mal, dass die »Interessen« nicht auf humanitärem Gebiet definiert werden, ist deutlich, und plötzlich erinnert man sich wieder, dass es ja gerade sein Ministerium war, das Niebel, bevor er für sein Amt nominiert wurde, abschaffen wollte, was er heute, vereitelter Wirtschafts-, vereitelter Verteidigungsminister, vielleicht von innen heraus tut.
Donnerstag, 18 . April, 9 Uhr 01
Der »Stern« erscheint mit einer Enthüllungsgeschichte über die Mafia-Verbindungen des Rappers Bushido. Darin spielen auch Verflechtungen mit jenem CDU -Abgeordneten eine Rolle, bei dem er ein Praktikum absolvierte, ein Foto von Bushido mit Innenminister Friedrich steht daneben.
Vor dem Osteingang des Reichstags treffen die Limousinen ein. Dirk Niebel knöpft sich die Jacke über dem Bauch zu, es ist die Jacke von gestern. Auch Interviews werden schon hier gegeben. Heute ist der Auftrieb groß. Als ich den Saal betrete, summt und schwirrt er, die Grüppchen lösen sich, formieren sich neu.
Nie war die Pressetribüne so voll, nie ein solches Kameraaufgebot auf den Rängen. Alle Objektive richten sich auf Ursula von der Leyen, von der es vor Tagen noch hieß, sie werde sich gegen die Fraktion und für die Frauenquote entscheiden. Abweichlerinnen werden erwartet. Im letzten Moment aber hat man sich auf den Kompromiss geeinigt: Ab 2020 gibt es dann dreißig Prozent Frauen in den Führungsetagen … Die Arbeitsministerin steht gerade in einem Hof aus Sonnenlicht.
Lammert eröffnet mit dem Nachruf auf Ottmar Schreiner. Wir erheben uns. Von der Leyen hat die Hände gefaltet. Sie hebt in diesem Fünf-Minuten-Nachruf den Kopf für keinen Moment. Die Einkehr ist vollkommen, auch im Saal. Merkel legt die Hände auf der hohen Lehne ab. Das Kabinett ist fast komplett.
Manchmal sagt mir ein Blick in die Kuppel, dass der Himmel blau ist. Den Frühling aber erkenne ich vor allem an den frischen Farben der Besucher, die kariert und geblümt, hell gestreift, sogar in Bermuda-Shorts gekommen sind. Über Ottmar Schreiner sagt Lammert gerade: »Er setzte sich früh dafür ein, dass aus der Marktwirtschaft keine Marktgesellschaft wird. Immer wieder warnte er vor den negativen Folgen, wenn Märkte sich in Bereiche ausdehnen, wo sie nach seiner Überzeugung nicht hingehören.« Ein Satz, der geradezu unparlamentarisch klingt, gibt es doch auch hier kein Feld, auf dem der Begriff »Wettbewerbsfähigkeit« nicht als Leitwert taugte. Wir nehmen Platz.
Anschließend gibt Schäuble eine umständliche Erklärung zur Finanzhilfe für Zypern ab. Er spricht als das Orakel, das sich durch badische Färbung humanisiert. Attackieren muss er niemanden. Je länger er spricht, desto mehr Grüppchen bilden sich wieder. In den hinteren Reihen hört niemand mehr zu. Durch den Rollstuhl ist auch der gestische Bewegungsradius Schäubles eingeschränkt. Er schöpft ihn aus. Hinter mir beginnen unterdessen zwei Sicherheitsbeamte mit der Diskussion des Mittagessens. Es ist 9 Uhr 23 . Sie entscheiden sich für ein Hähnchen mit Chili-Soße. » 5 Euro 90 , da stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis«, anders gesagt, auch die Wettbewerbsfähigkeit des Kantinen-Geflügels ist gesichert. Schäuble beziffert die Zypern-Milliarden. Seine Stimme aber kann sich in diesem Augenblick gegen den Lobpreis des Hähnchens kaum durchsetzen.
Zypern, sagt Schäuble, habe »unser aller Anerkennung verdient«. Da pladdert der Applaus herein wie ein heftiger Regenschauer. Es wird gemocht, wenn die Funktion, die eben noch Zahlen, Daten, Kurven, Progressionen ausspuckte, plötzlich ihre Zuwendung den Menschen in Zypern, Griechenland und Spanien zukommen lässt. Für diese Menschen klatschen alle gemeinsam. Auch klingt Schäubles Entsetzen über eine Jugendarbeitslosigkeit von dreißig Prozent aufrichtig. Ja, es verdüstert sich sein Gesicht mit Falten über der Nasenwurzel, begleitet von Gesten, die den Raum bearbeiten wie eine Stickerei. Merkels Gesicht ist jetzt nur grimmig zu nennen und erhellt sich allenfalls kurz, als Schäuble an der Regierungsbank vorbeirollt, mühsam, denn es klemmt noch eine Akte neben dem Oberschenkel. Der Lichtstrahl auf Ursula von der Leyen ist
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