Das Hohe Haus
einigen mitgesungen. Die Regierungsbank hält es wie die Nationalelf, die meisten singen, die wenigsten im Saal bleiben sitzen. Dann verschwindet die Tagesordnung von der Anzeigetafel. Die Saaldiener entsorgen die Programmzettel, die Blumengestecke werden entfernt, die Kopfhörer der Gäste eingesammelt. Doch auch im leeren Saal finden die Fotografen Motive. Noch zwanzig Minuten bis zum Sitzungsbeginn. Hat die Feier gerührt? Ich schaue in die Gesichter der Besucher. Vielleicht durch Feierlichkeit.
Als die »Umsetzung der Verbraucherrichtlinie« aufgerufen wird und das Reden wieder einsetzt, der bürokratische Sermon, die Litanei, die sich jetzt mit Online-Bestellungen befasst, wenig Interesse bindet, keine Zwischenrufe provoziert, fällt die Konzentration von Franz Müntefering weiter auf. Zwei Plätze zwischen ihm und Heidemarie Wieczorek-Zeul sind leer geblieben. Später fahren wir zufällig im Aufzug abwärts. Ich sage: »Sie nehmen Abschied, Herr Müntefering.« Er blickt kurz auf, stutzt und sagt: »Ja, ich nehme Abschied.« Verhalten sagt er das. »Und manchmal klatschen Sie sogar für die Linkspartei.« »Ja, das kann vorkommen.« Zum Abschied gibt er mir die Hand, auch das so, als habe er mich jetzt hinter sich. Das ist mir sympathisch.
Mittwoch, 26 . Juni, 12 Uhr 50
Obama war in Berlin und hat die Jacke ausgezogen. Auf der Suche nach einem »historischen« Satz wurden manche fündig, manche nicht. In der Türkei dauern die Auseinandersetzungen an. Ein Demonstrant erfindet den stumm-stehenden Protest. In Brasilien brennen Fahnen aus Protest gegen Korruption und die hohen Kosten der Fußballweltmeisterschaft. Merkel nennt das Internet »Neuland«. Pep Guardiola nähert sich München, Jan Ullrich gesteht Eigenblutdoping. Im Süden und Osten Deutschlands werden die Folgen des Hochwassers beseitigt. Wir spenden, Politiker loben unseren Gemeinsinn und danken den Helfern. Es ist kalt draußen und will regnen. Die Barrieren des Obama-Besuchs stehen noch. Ich esse eine Wurst am Mauerfriedhof, »der Wowereit kommt auch oft her«, sagt der Verkäufer, »aber am häufigsten kommt Renate Künast«.
Es ist 12 Uhr 56 . Noch ist der Saal fast leer, diffus scheint das Licht, die Fraktionsvorsitzenden arbeiten schon. Auf den Tribünen das übliche Bild der zwei Gruppierungen: die Senioren grauhaarig und in Pastell gewandet, die Jugendlichen gedeckt in Farben und Mienen. Einzelne Abgeordnete begrüßen fast jeden im Plenum mit Handschlag. Dass man der Sitzungspräsidentin, heute Petra Pau, den Stuhl unterschiebt, wird von ihr durch Eigeninitiative vereitelt. Dann eröffnet sie die Debatte mit dem außerordentlichen Tagesordnungspunkt zu den »Konsequenzen für Deutschland aus der internationalen Internetüberwachung«.
Innenminister Hans-Peter Friedrich mäandert zwischen unverbundenen Textmodulen, bekennt sich zum »Schutz der Privatsphäre« als verfassungsgemäßes »Grundrecht«, bekennt sich zur Gesetzestreue bei Staat, Behörden, Sicherheits- und Nachrichtendiensten, bekennt sich zur Kontrolle dieser Organe durch das Parlament, bekennt sich zum Verständnis für alarmierte Presseberichte über flächendeckende Ausspähung. Zwischen diesen Segmenten aber vermittelt nichts. Trotzdem gibt es eine Größe, die zur Relativierung von allem geeignet ist: die Angst. Der Minister: »Es gibt keine Freiheit ohne Sicherheit. Wenn die Menschen Angst haben müssen, dass sie in der U-Bahn in die Luft gesprengt werden, wenn die Menschen Angst haben müssen, dass ihre Häuser ausgeräumt werden, während sie im Urlaub sind, wenn sie Angst haben müssen, dass ihre Kinder auf dem Weg zur Schule entführt werden, dann ist die Freiheit bedroht. Deswegen braucht Freiheit auch Sicherheit.«
Diese Bemerkungen haben zwar nichts mit der Internetüberwachung zu tun. Der unbeholfene Versuch aber, ein diffuses Gefühl der Bedrohung mit Maßnahmen zur Beschränkung persönlicher Freiheit zu beantworten, verfehlt seine Wirkung nicht. Der unscheinbare Mann, der seine Signalwörter eines nach dem anderen in die Luft katapultiert, lässt nun die Allgemeinplätze übernehmen: »verhältnismäßig« müsse die Ausspähung sein, »die richtige Balance« müsse gefunden werden, »Waffenhändler« und »Rauschgifthändler« müssen bekämpft werden. Am Ende schraubt sich der Minister zu einer Selbstentmündigung hoch, die in dem Ausruf kulminiert: »Wollen Sie einer der ältesten Demokratien erzählen, wie sie ihre Behörden kontrollieren
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