Das Hohelied des Todes
getan?«
Der Rosch-Jeschiwa seufzte.
»Die Halacha ist nun einmal die Halacha. Wenn ich glauben müßte, daß mein Leben in Gefahr wäre, würde ich mich behandeln lassen.«
»Sie weichen mir aus.«
»Was Sie getan haben, war unklug, Peter.« Der alte Mann lächelte trocken. »Und obendrein haben Sie auch noch meine Unterrichtsstunde versäumt.«
»In welcher Sprache haben Sie sie denn diesmal gehalten?« fragte Decker grinsend.
»Auf hebräisch und jiddisch. Aber Sie sind ein intelligenter Mensch. Sie hätten bestimmt etwas aufgeschnappt.«
Schulman zog die Augenbrauen hoch.
»Sie kamen mir schon heute morgen bei der Schachris müde vor. Aber jetzt würde Ihnen ein Blinder Ihre Erschöpfung ansehen. Gehen Sie zu mir nach Hause und ruhen Sie sich aus.«
»Ich möchte zur Mincha«, sagte Decker.
Schulman nickte.
»Na, schön. Kommen Sie mit. Es ist wohl sowieso vergebene Liebesmühe, wenn ich alter Mann versuche, es Ihnen auszureden.«
Die beiden Männer standen auf, und Decker spannte den Bizeps an. Das Gelenk war zwar noch ziemlich steif, aber immerhin schon wieder ein bißchen beweglich – ein Fortschritt.
Heute durften Sammy und Jacob die Hawdala-Kerze halten. Sie standen am Rand der erhöhten Plattform auf Stühlen neben Decker und hielten den silbernen Leuchter empor. Der Rosch-Jeschiwa riß ein Streichholz an und hielt es an die Dochte, und schon bald brannten die bunten, geflochtenen Wachsstränge in orangegelben Flammen. Als das Licht flackernd auf die Gesichter der Jungen fiel, schossen Decker einen Augenblick lang die Lagerfeuer im Hotel Hell durch den Kopf. Die Gesichter der obdachlosen Jugendlichen hatten Todesmasken geglichen, aber diese Jungen sprühten vor Leben. Decker legte ihnen die Finger um die Hände, um sie vor dem tropfenden, heißen Wachs zu schützen, und Sammy lächelte ihn an. Ihm wurde warm ums Herz.
Rav Schulman erhob den silbernen Weinbecher und stimmte eine melodische Litanei an:
»Baruch ata Adonaj Elohenu melech Ho’olam bore pri Hagafen.«
Gelobt seist Du, Herr unser Gott, König der Welt, der Du die Frucht des Weinberges erschaffen hast.
Die Gemeinde antwortete mit einem schallenden Amen.
Der Rabbi setzte den Becher ab und hob einen sechzig Zentimeter hohen Turm aus massivem, ziseliertem Silber hoch. Das spitze Dach war mit einer vergoldeten Fahne geschmückt, und an den Dachvorsprüngen hingen vergoldete Glöckchen. Auf drei Seiten waren in den Turm hebräische Schriftzeichen eingraviert, auf der vierten hatte er eine kleine Tür. Dahinter lagen Nelken, Weihrauch, Piment und Zimt. Mit lauter Stimme segnete der Rabbi die Gewürze, dann öffnete er das Türchen und atmete das süße, würzige Aroma tief ein. Er reichte den Turm an Decker weiter, der selbst daran roch und auch die Jungen daran riechen ließ, bevor er ihn dem Rabbi zurückgab.
»Amen.«
Der Rabbi setzte die Gewürzbüchse ab und dankte Gott, dem Schöpfer des Lichts, indem er die Fingernägel nahe an die Kerzenflamme hielt. Abschließend rezitierte er den Rest der Hawdala, der Zeremonie für den Schabbatausgang. Bald begann die nächste weltliche Arbeitswoche, und Gottes heiliger Tag der Ruhe war offiziell vorbei.
Nachdem Schulman mit wohltönender Stimme den letzten Segen gesprochen hatte, trank er einen Schluck Wein. Den Rest goß er in ein silbernes Gefäß und löschte darin die Kerzenflamme. Es knisterte und sprühte, bis nur noch ein dünner Rauchfaden aufstieg.
»Baruch ata Adonaj hamawdil bejn kodesch lechol.«
Gesegnet seist Du, o Gott, der Du einen Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Profanen gemacht hast.
10
Die erste Aufnahme zeigte einen weißen Anus, in den ein schwarzer Penis eindrang. Decker wollte das Bild aussortieren, aber da hatte Hollander schon danach gegriffen, ein Mann mit Halbglatze und braunem Haarkranz, buschigem Walroßschnurrbart und Hängebauch, der unbedingt noch einen zweiten Blick darauf werfen mußte. An diesem Morgen lächelte er. Die Arbeit gefiel ihm.
»Was meinst du? Ist das ein Mädchen- oder ein Jungenarsch?« fragte er, an seiner Meerschaumpfeife nuckelnd. »Aus dieser Perspektive kann ich es nicht erkennen.«
Decker entriß ihm das Foto und funkelte ihn böse an.
»Mike«, sagte er. »Wir sollen uns Gesichter ansehen, keine Ärsche.«
Er hielt ein paar Aufnahmen von Lindsey Bates hoch. »Dieses Mädchen, Mike. Wir suchen dieses Mädchen.«
Der Detective knurrte und zog den Bauch ein.
»Und mach die Pfeife aus«, raunzte Decker.
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