Das Hohelied des Todes
gezwungen, ihn anzurufen?«
»Peter, ich lebe als alleinstehende Frau in einer Jeschiwa. Ich bin dazu verpflichtet, mich den geltenden Sitten und Gebräuchen anzupassen.«
»Was vorgestern nacht passiert ist, war eine Sache zwischen dir und mir, Rina. Und das geht niemanden etwas an.«
»O doch. Schließlich habe ich mich hier an bestimmte Regeln zu halten.«
»Komisch, daß du das sagst. Ich erinnere mich noch dumpf an eine kleine Rangelei auf dem Fußboden, bei der diese Regeln keine Rolle spielten.«
Sie wurde rot.
»Wie kannst du nur so gemein sein.«
»Habe ich dich vielleicht beim Rabbi verpetzt? ›Die kleine Rina Lazarus ist heute sehr ungezogen gewesen.‹«
»Hör auf damit!«
»Was meinst du eigentlich, wie mir zumute ist, Rina?«
»Ich habe dich doch gar nicht angeschwärzt.«
»Soll etwa so unser Leben aussehen, wenn wir erst verheiratet sind, Rina? Willst du bei jedem Fehltritt und bei jeder kleinen Entgleisung von mir sofort zum heiligen Mann rennen, damit er sein göttliches Urteil über meinen Charakter abgeben kann?«
Sie starrte ihn eisig an.
»Darauf hast du keine Antwort verdient.«
»Aber ich bitte darum. Sei doch so gut.«
Sie kniff die Lippen zusammen.
»Was wir in unserer eigenen Wohnung tun, wenn wir Mann und Frau sind, geht außer uns niemanden etwas an. Aber das kann man nicht vergleichen …«
»Du hättest mich einfach nach ein paar Stunden aufwecken und rausschmeißen können. Es hat sich doch sowieso nichts zwischen uns abgespielt. Keiner hätte etwas gemerkt.«
»Wir sind keine kleinen Kinder, die hinter dem Rücken der Eltern etwas anstellen, Peter. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, nur weil ich dich hier übernachten ließ. Das wollte ich Rav Schulman wissen lassen.«
»Was erzählst du dem großen Rabbi denn sonst noch so über mich?«
Sie verlor die Beherrschung.
»Gar nichts!«
»Schließlich hat er doch anscheinend einen heißen Draht zu Gott …«
»Jeder Jude hat einen heißen Draht zu Haschem, wann immer er will. Man braucht bloß einen Siddur aufzuschlagen und T’hilim zu sagen. Rabbi Schulman wird von allen geachtet, weil er ein Zadik ist und ein Talmid chacham – ein frommer und gelehrter Mann – und nicht, weil wir ihn für einen Stellvertreter Gottes halten. Wir haben nämlich keinen Papst, erinnerst du dich?«
»Aber manche Juden halten sich anscheinend trotzdem für etwas Besonderes …«
Er wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen.
»Geh nicht ran!« befahl er.
»Das ist immer noch mein Haus«, gab Rina ärgerlich zurück. »Wenn bei mir das Telefon klingelt, gehe ich ran.« Sie nahm ab, meldete sich und reichte den Hörer wortlos an Decker weiter. Während er zuhörte, gruben sich tiefe Furchen in sein Gesicht. Er sagte, er sei schon unterwegs, und legte auf.
»Schlechte Neuigkeiten?« fragte sie besorgt.
»Habe ich vielleicht schon einmal eine gute Nachricht bekommen?« fragte er bitter zurück.
Seine schreckliche Laune hatte sich noch verschlechtert, irgend etwas schien ihn zu quälen. »Was ist passiert?« fragte Rina.
»Eine meiner Informantinnen, ein sechzehnjähriges Mädchen, das wie meine Tochter aussieht, liegt halb totgeschlagen im Krankenhaus. Indirekt ist es meine Schuld. Sie hat mich mit Informationen versorgt, bis mir die Sache zu brenzlig wurde. Dann habe ich ihr gesagt, sie soll die Finger davon lassen. Aber sie hat nicht auf mich gehört, und ich glaube, daß sie deshalb verprügelt worden ist. Jetzt schwebt sie zwischen Leben und Tod, und ich bin außer mir vor Wut.«
»Peter, du bist doch nicht verantwortlich dafür, daß …«
»Komm mir jetzt bloß nicht mit deiner Heile-heile-Gänschen-Tour. Das Leben ist kein Rosengarten. Das Leben ist ein Scheißspiel, und euer ganzer Laden hier kotzt mich an. Ich hasse euer scheinheiliges Getue. Ich hasse eure Selbstgerechtigkeit. Ich kann es nicht ertragen, daß ihr immer recht haben sollt und alle anderen unrecht. Ich hasse diesen gottverdammten Absolutheitsanspruch. Von mir aus kannst du gern an eure Regeln und Vorschriften glauben, aber laß dir eines gesagt sein: In der Welt da draußen gibt es kein Schwarz und Weiß – da draußen ist alles schmuddelig grau.«
Decker nahm die Tasse vom Küchentisch und warf sie im hohen Bogen durchs Zimmer. Er hatte schon immer ein gutes Auge und eine sichere Hand gehabt, weshalb ihn seine Vorgesetzten auch zu gern als Scharfschützen im Sondereinsatzkommando gesehen hätten. Die Tasse landete genau auf Rinas Hochzeitsfoto und
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