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Das Hohelied des Todes

Das Hohelied des Todes

Titel: Das Hohelied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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riß es von der Wand. Zersplittert landete es auf dem Boden.
    Rina starrte erst auf die nackte Stelle an der Wand, dann sah sie Decker an. Fast wären ihr die Tränen gekommen.
    »Wie lange liegt dir das schon auf der Seele?«
    »Schon ewig.«
    »Ich weiß ja, daß du furchtbar unter Streß stehst, Peter, und ich gebe mir wirklich Mühe, verständnisvoll zu sein …«
    »Rina, der Engel. Oder noch besser: Rina, die Märtyrerin, die sich andauernd von ihren Freunden quälen lassen muß, weil sie sich mit einem großen, dummen Goi eingelassen hat.«
    »Hör auf, Peter!«
    »Willst du ihnen etwas Interessantes erzählen, Rina? Wenn sie dich das nächste Mal damit piesacken, daß ich ein Schejgez bin, sagst du ihnen einfach, daß ich Jude bin. Damit kannst du ihnen sicher das Lästermaul stopfen.«
    Sie blickte ihn verständnislos an.
    »Es ist wahr«, sagte er. »Ich bin Jude, Rina. Ich bin genauso jüdisch wie du.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »Ich bin adoptiert. Meine leiblichen Eltern waren Juden. Verstehst du jetzt?«
    Sie konnte ihm nicht antworten.
    »Ich weiß es, seit ich achtzehn bin«, fuhr er fort. »Schon bevor ich zum ersten Mal einen Fuß in die Jeschiwa gesetzt hatte, war mir klar, daß ich genaugenommen selbst Jude bin.«
    »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
    »Ich hatte meine Gründe.«
    Rina stiegen Tränen in die Augen.
    »Wie konntest du mir das verheimlichen? Vertraust du mir denn nicht?«
    »Mit Vertrauen hatte das überhaupt nichts zu tun. Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich herausfinden wollte, was es heißt, deine Art von Judentum zu leben, um es entweder annehmen oder ablehnen zu können. Und weißt du was, Rina? Ich lehne es ab! Ich lehne euren ganzen Hokuspokus ab, eure Bräuche und Regeln, weil sie nämlich von Rabbinern gemacht sind, die in Elfenbeintürmen saßen und sich nie mit irgendwelchem Alltagskram die Hände dreckig machen mußten. Von Männern wie Schulman. Soll er doch mal einen Monat auf der Straße leben, zwischen all dem Dreck und Müll, den Pennern und menschlichen Wracks, die ich Tag für Tag zu sehen kriege. Ich garantiere dir, daß nach diesem einen Monat in dem unerschütterlichen Glauben eures Rabbis Risse klaffen werden, die so breit sind wie das Rote Meer.«
    Er starrte sie an, aber sie hielt seinem Blick stand, und ihre Augen brannten vor Wut. So hatte er sie noch nie erlebt.
    »Du liegst soweit daneben, Peter, weiter geht es gar nicht«, sagte sie. »Rav Schulman war drei Jahre in Auschwitz. Er hat seine gesamte Familie verloren. Seine Frau haben die Nazi-Schlächter unfruchtbar gemacht. Seine Kinder wurden vor seinen Augen ermordet – mit Kopfschuß hingerichtet. Man hat ihn gezwungen, ihnen mit den bloßen Händen ein Grab zu schaufeln.«
    Decker starrte sie noch immer an, aber sein Blick war nicht länger herausfordernd. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund und einen ekelhaften Geruch in der Nase. Ihm war übel. Mit gesenktem Kopf schluckte er ein trockenes Würgen hinunter und ging zur Tür.
    »Ich bin kein Heiliger, Rina«, sagte er leise. »Und ich kann auch nicht mit einer Heiligen leben.«
     
    Ihr Kopf war dick verbunden, und das wenige, was er von ihrem Gesicht sehen konnte, war blutig und zerschrammt. Plastikschläuche kamen aus dem Verband. Da sie die Augen geschlossen hatte, als Decker ins Zimmer kam, rückte er sich leise einen Stuhl an ihr Bett. Monitore und Meßgeräte wie in einem Cockpit überwachten ihre Lebensfunktionen. Leuchtend grüne Linien huschten über den Bildschirm, und in unregelmäßigen Abständen piepste es. Apparatemedizin. Decker fragte sich, ob die Instrumente im Endeffekt tatsächlich halfen.
    Nach einer Weile tupfte er ihr mit einem Papiertaschentuch behutsam die feuchte Stirn ab. Sie schlug die Augen auf.
    »Hi, Kiki«, sagte er leise.
    Ihre Lippen kräuselten sich, sie wollten ein Wort formen, doch es kam nur ein schwaches Husten heraus.
    »Nicht reden. Dafür hast du später noch jede Menge Zeit.«
    Sie nickte.
    »Schlaf weiter.«
    Sie nickte noch einmal. Die Augen fielen ihr zu, und einen Augenblick später war sie eingedämmert.
    Decker ging hinaus und steckte sich eine Zigarette an. Sogleich wurde er von zwei Schwestern und einem Pfleger darauf hingewiesen, daß rauchen verboten sei. Er drückte die Zigarette aus.
    Eine junge Frau kam auf ihn zu – eine Nutte, die als solche nicht erkannt werden wollte. Ihr Rock war zwar nicht zu kurz, dafür aber eng. Die Bluse war zwar bis zum Hals zugeknöpft, aber

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