Das Hospital der Verklärung.
Kompliziertheit … Die Verwandlung eines Menschen, der zu dem Zeitpunkt, da ihn die Mauern einer Universität aufnehmen, seinesgleichen nur über deren Haut und eventuell noch über deren Schleimhäute kennt« – er lächelte, denn das sollte eine Zweideutigkeit sein – »und der dann als … Arzt wieder herauskommt.«
Das klang einfach idiotisch. Stefan stellte ärgerlich und erstaunt fest, daß er seine Gedanken nicht rasch genug formulieren konnte, nach Worten suchen mußte und in Verwirrung geriet, etwa wie ein Student vor seinem Professor. Und das, obgleich er für Sekulowski keine Spur von Hochachtung empfand.
»Man könnte annehmen, wir wissen nicht viel mehr über unseren Leib als über den entferntesten Stern«, sagte der Dichter leise.
»Wir lernen ja die ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeiten kennen …«
»Wenn doch die meisten biologischen Thesen ihre Antithesen haben. Wissenschaftliche Theorien sind psychischer Kaugummi.«
»Aber erlauben Sie«, versetzte Stefan, nun schon ziemlich ungeduldig, »was machen Sie denn, wenn Sie einmal krank werden?«
»Ich suche einen Arzt auf.« Sekulowski lächelte. Sein Lächeln war hell wie bei einem Kind. »Aber ich war etwa achtzehn Jahre alt, als ich dahinterkam, wie viele Trottel doch Arzt werden. Seitdem habe ich vor jeder Krankheit panische Angst, denn wie kann man seine kompromittierenden Schwächen jemand beichten, der dümmer ist als man selbst?«
»Manchmal ist das aber das einzig Richtige. Haben Sie niemals Lust verspürt, dem ersten besten Fremden etwas zu gestehen, was Sie vor Ihren Nächsten verheimlichen würden?«
»Wer kann nach Ihrer Auffassung ›die Nächsten‹ sein?«
»Nun, sagen wir die Eltern.«
»Oh, du himmlische Einfalt! Die Eltern! Und warum nicht die Panzerfische? Sie sind doch nur das letzte Glied der Evolution, wie das eure Biologie lehrt, die Gefühle müßten demnach die ganze Familie bis hinauf zu den Echsen umfassen. Oder kennen Sie vielleicht jemand, der ein Kind mit dem zärtlichen Gedanken an dessen künftiges Seelenleben zeugte?«
»Na, dann zum Beispiel die Frauen.«
»Sie scherzen wohl? Die Geschlechter dienen einander aus recht verzwickten Gründen, wahrscheinlich ist das eine Folge davon, daß sich irgendwann einmal eine Eiweißzelle ein wenig verbogen, daß hier etwas fehlte, dort sich etwas ausgebeult hatte und so eben gewisse Einbuchtungenund ihnen zugeordnete Erhebungen entstanden; aber daß man daraus einen Weg zur Affinität ableiten sollte? Selbstredend der geistigen … Steht Ihnen Ihr Bein nahe?«
»Was hat denn das …« Stefan versuchte zu opponieren. Er merkte, daß er nicht zu folgen vermochte; Selukowski ließ ihm gar keine Zeit zu parieren.
»Alles hat. Das Bein steht Ihnen natürlich näher, da sie es zweifach erleben können; einmal mit geschlossenen Augen als ›bewußtes Gefühl des Beinbesitzers‹, das zweite Mal, wenn Sie es anschauen, es berühren, mit anderen Worten: als Sache. Leider ist jeder andere Mensch nur Sache.«
»Sie spielen mit dem Absurden. Oder wollen Sie behaupten, daß Sie nie einen Freund hatten, daß Sie nie geliebt haben?«
»Endlich liegen wir richtig!« rief Sekulowski aus. »Natürlich hatte ich einen. Aber was soll das mit dem Nahestehen zu tun haben. Niemand kann mir näher sein als ich selbst, und ich, ich bin mir manchmal so fern …«
Er senkte die Augenlider mit einem Aufwand, als leiste er Verzicht auf die Welt. Das Gespräch glich einem Irrgang im Labyrinth. Stefan beschloß, den Partner nicht abschweifen zu lassen und zu zeigen, was er konnte. Es würde einen Heidenspaß geben.
»Wir sprachen doch über Literatur. Sie greifen allzu einseitig Worte heraus und übertreiben die Einzelheiten …«
»Schießen Sie nur los!« ermunterte ihn der Dichter.
»Dabei ist doch ein literarisches Werk eine Frucht der Konvention und das Talent die Fähigkeit, dieselbe zu durchbrechen. Ich bin nicht nur für den Realismus, mir ist jede literarische Richtung recht, wenn der Autor nur konsequent der inneren Logik seines Werkes folgt: Werden Helden einmal mit dem Kopf durch die Wand rennen ließ, der muß es auch weiterhin tun.«
»Verzeihen Sie, aber … wozu ist die Literatur nach Ihrer Auffassung da?« fragte Sekulowski leise, wie im Schlaf.
Da Stefan noch nicht fertig war, brachte ihn dieser Einwurf gänzlich aus dem Konzept. »Die Literatur lehrt …«
»Sooo?« machte der Dichter gedehnt. »Und was lehrt Beethoven?«
»Und was Einstein?«
Stefan war nahe
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