Das Hospital der Verklärung.
Gelenkmechanismen, die mit unendlicher Geduld modelliert und doch so einfach sind, die Gotik des Knochengerüstes, die Labyrinthe des kreisenden Blutes, die wundervollen optischen Systeme, die Architektur der Nervenfasern, Tausende und aber Tausende einander bändigender Apparate, die alle Vorstellungen übersteigen … Und all das für die Katz!«
In seiner Überraschung wagte Stefan keinen Laut von sich zu geben. Der Dichter indes klatschte mit der flachen Hand auf ein großes aufgeschlagenes Buch, das bisher von den umherliegenden Zetteln verdeckt gewesen war: einen Anatomieatlas, den Stefan ihm geliehen hatte.
»Welches Mißverhältnis besteht doch zwischen dem Zweck und den Mitteln. Ihr Ingenieur vegetierte so dahin, ohne zu ahnen, was er gefesselt in sich beherbergte, bis plötzlich die Zellen ihrer Kräfte, die bislang nach innen, auf die Bedürfnisse der Nieren und Därme, gerichtet waren, von der Kette ließen. Diese abrupte Befreiung! Ein Ausbruch von vielen Tausenden eingemauerter Möglichkeiten! Eine Uhr mit rebellierenden Rädchen.«
»Sie meinen die Geschwulst?«
»So nennt ihr das. Aber was ist schon eine Benennung? Sehen Sie, Doktor: Eure Gedanken sind einfach in Formeln konserviert. Man braucht doch, weiß Gott, nur einbißchen Phantasie! Krebs? Ist das nicht einfach ein ›Hintertürchen‹, ein ›Seitensprung‹ des Organismus? … Meine blinden Mächte, die hunderttausendfach das lebende Gewebe gegen alle Zufälligkeiten gesichert haben, versäumten es offenbar, eine gewisse Tür genügend abzudichten. Das geht wie geschmiert, wie eine Uhr eben, und plötzlich – ein unvorhergesehener Ausfall. Haben Sie mal zugesehen, wenn ein Kind beim Spiel das Rädchen des Sekundenzeigers abbricht? Wie das dann wirbelt und summt, wie die Zeiger gleichsam in einem Rausch die Zeit verschlingen, statt nutzbringend die Stunden zu messen! Ebenso verhält es sich mit dem Knötchen, dem Pflänzchen, das einer rebellischen Zelle entspringt. Die frei ist, verstehen Sie, frei … Wie das gedeiht im Hirn, mit Blut gedüngt, es umfängt die Gedanken, es frißt sich durch die wohlgeordneten, mit menschlichem Kraut bepflanzten Beete und zerstört sie …!«
»Sie mögen recht haben …«, sagte Stefan. »Aber weshalb will er denn nicht operieren?«
Der Dichter überhörte das, er schrieb so eifrig, daß ihm die Feder bisweilen das Papier einriß. Eine Weile herrschte Schweigen. Ein rötlicher Sonnenstrahl, der sich durch die Wolken gestohlen hatte, drang tief in die Laubkrone vor dem Fenster. Das Zimmer flammte auf und verlosch. Stefan wußte selbst nicht warum, sein Herz krampfte sich zusammen. Und er fragte plötzlich, obwohl das gar nicht zum Thema gehörte: »Sagen Sie mir bitte … weswegen haben Sie eigentlich die ›Staatsfördernden Betrachtungen‹ geschrieben?«
Sekulowski, der ihm bisher die Seite zugewandt hatte, drehte sich jählings um und schaute ihm in die Augen, und obgleich Stefan sah, wie sich das Gesicht des Dichters unter dem Blutandrang verfärbte, fühlte er sich erleichtert, daß er gewagt hatte, diese Frage zu stellen.
»Was geht Sie das an?« gab Sekulowski mit grober, völlig veränderter Stimme zurück. »Ich möchte Sie doch ersuchen, mich nicht zu langweilen. Ich muß schreiben.« Sprach’s und kehrte Stefan den Rücken zu.
Stefan ging zu Krzeczotek. Vielleicht könnte der ihm helfen? Der Freund hatte seine Doktorarbeit beendet und sie, mit einem Schleifchen umwunden, in der Schublade verstaut. Von da an eröffnete sich ihm eine Periode gefährlicher Unausgefülltheit. Das Krankenhaus interessierte ihn nun nicht mehr, die Patienten ödeten ihn geradezu an; jede Stunde hier kostete ihn Überwindung. Ob er saß, ging oder stand – alles änderte nichts an der Qual, dauernd das Bild der Nosilewska vor Augen zu haben.
»Du mußt dich entschließen«, sagte Stefan in einer plötzlichen Aufwallung von Mitleid. »Wenn du willst, lade ich sie heute zu mir ein. Dann kann ich ja sagen, ich muß alles für die Operation vorbereiten, und lasse euch allein.« Er hielt sich in diesem Augenblick für einen mustergültigen Freund.
Die Nosilewska sagte ab. Sie war gerade damit beschäftigt, sich Auszüge aus einer dicken deutschen pathologischen Anatomie zu machen. Ihre mit grüner Tinte befleckten Fingerspitzen gaben ihr das Aussehen eines Schulmädchens. Sie wollte eben zu Rygier aufbrechen. Eigentlich hätte sie sich ja selbst bei ihm eingeladen, weil er eine Zeitlang Assistent am Lehrstuhl
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