Das Hotel New Hampshire
ihn nach Wien mitnehmen? Wenn wir gehen, mein ich - kann Kummer dann mit?«
»Ich fürchte, er muß mitkommen«, sagte Mutter. Ihre Stimme klang genauso resigniert wie sie in meinem Traum geklungen hatte, als Mutter gesagt hatte: »Keine Bären mehr«, ehe sie an Bord der weißen Schaluppe entschwunden war.
»Heiliger Strohsack«, sagte Junior Jones, als er Kummer auf Eggs Bett sitzen sah, eines von Mutters Halstüchern um Kummers Schultern, Eggs Baseballmütze auf Kummers Kopf. Franny hatte Junior ins Hotel gebracht, damit er Franks Wunderwerk sehen konnte. Harold Swallow war auch mitgekommen, aber Harold irrte irgendwo herum; er war im ersten Stock falsch abgebogen, und anstatt in unsere Wohnung zu kommen, irrte er durch das Hotel. Ich versuchte an meinem Schreibtisch zu lernen - ich lernte auf meine Deutsch-Prüfung und versuchte, Frank nicht um Hilfe zu bitten. Franny und Junior Jones machten sich auf die Suche nach Harold, und Egg war mit Kummers Kostümierung nicht mehr zufrieden; er zog den Hund aus und begann von vorne.
Dann fand Harold Swallow den Weg zu unserer Tür und blickte zu uns herein - und sah den nackten Kummer auf Eggs Bett sitzen. Harold hatte Kummer noch nie gesehen - weder tot noch lebendig -, und er rief den Hund zu sich an die Tür.
»Hierher, Hundchen!« rief er. »Komm her!«
Kummer grinste Harold an, als wolle er gleich loswedeln - ohne sich zu rühren.
»Nun komm schon! Hier, mein Hundchen!« rief Harold. »Guter Hund, liebes Hundchen!«
»Er muß in diesem Zimmer bleiben«, ließ Egg Harold Swallow wissen.
»Ach so«, sagte Harold mit einem eindrucksvollen Augenaufschlag in meine Richtung. »Also wirklich, der ist sehr gut erzogen«, sagte Harold Swallow. »Der rührt sich nicht vom Fleck, was?«
Und ich ging mit Harold Swallow hinunter ins Restaurant, wo Junior und Franny nach ihm suchten; ich sah keinen Grund, weshalb ich Harold sagen sollte, daß Kummer tot war.
»Das dein kleiner Bruder?« fragte mich Harold nach Egg.
»Genau«, sagte ich.
»Und einen netten Hund habt ihr auch«, sagte Harold.
»Scheiße, Mann«, sagte Junior Jones später zu mir; wir standen vor der Turnhalle, die man wie ein Parlamentsgebäude zu schmücken versucht hatte - für das Wochenende, an dem Juniors Abschlußfeier stattfand. »Scheiße«, sagte Junior, »ich mach mir echt Sorgen wegen Franny.«
»Wieso?« fragte ich.
»Es stimmt was nicht mit ihr«, sagte Junior. »Sie will nicht mit mir schlafen«, sagte er. »Nicht mal zum Abschied oder so. Sie tut's einfach nicht, auch nicht dies eine Mal! Manchmal hab ich den Eindruck, sie traut mir nicht«, sagte Junior.
»Na ja«, sagte ich. »Franny ist doch erst sechzehn.«
»Ich weiß, aber sie ist schon sehr weit für ihr Alter«, sagte er. »Kannst du nicht mal mit ihr reden?«
»Ich?« sagte ich. »Was soll ich denn sagen?«
»Kannst du sie nicht mal fragen, warum sie nicht mit mir schlafen will?« sagte Junior Jones.
»Scheiße«, sagte ich, aber ich fragte sie - später, als die Dairy School leer war, als Junior Jones für den Sommer heimgefahren war (um sich für das Penn-State-Footballteam in Form zu bringen), als das alte Schulgelände und vor allem der Weg durch den Wald, den die Footballspieler immer benutzten, Franny und mich an eine Zeit erinnerten, die (für uns) schon Jahre zurückzuliegen schien. »Warum hast du eigentlich nie mit Junior Jones geschlafen?« fragte ich sie.
»Ich bin doch erst sechzehn, John«, sagte Franny.
»Ich weiß, aber du bist schon sehr weit für dein Alter«, sagte ich und war mir nicht ganz sicher, was das heißen sollte. Franny zuckte natürlich mit den Achseln.
»Nimm's mal von der Seite«, sagte sie. »Ich werde Junior wiedersehen; wir werden einander schreiben, und so weiter. Wir bleiben Freunde. Irgendwann einmal - wenn ich älter bin, und wenn wir tatsächlich Freunde bleiben - wird es vielleicht genau das Richtige sein: mit ihm zu schlafen. Dann möcht ich es nicht schon aufgebraucht haben.«
»Warum könntest du denn nicht zweimal mit ihm schlafen?« fragte ich sie.
»Du hast es nicht begriffen«, sagte sie.
Ich dachte mir, es könnte damit zu tun haben, daß sie vergewaltigt worden war, aber für Franny war ich immer schon ein offenes Buch.
»Nein, Kleiner«, sagte sie. »Mit dem Vergewaltigtwerden hat das nichts zu tun. Mit jemand zu schlafen ist ganz was anderes - vorausgesetzt, es bedeutet einem etwas. Ich weiß einfach nicht, was es mir bedeuten würde - mit Junior. Noch nicht.
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