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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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den Grillen und Fröschen zu, und Egg sagte: »Bleib immer weg von offenen Fenstern.«
    »Du bist wach?« sagte ich.
    »Ich kann nicht schlafen«, sagte Egg. »Ich sehe nicht, wo ich hingehe«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie es sein wird.«
    Es klang, als fange er gleich an zu weinen, und so sagte ich: »Ach komm, Egg. Es wird klasse sein. Du hast noch nie in einer Großstadt gelebt«, sagte ich.
    »Ich weiß«, sagte er schniefend.
    »Glaub mir, man kann da alles möglich tun, mehr als hier«, versprach ich ihm.
    »Ich kann hier eine Menge tun«, sagte er.
    »Aber da wird alles ganz anders sein«, sagte ich zu ihm.
    »Warum springen die Menschen aus Fenstern?« fragte er.
    Und ich erklärte ihm, es sei nur eine Geschichte - auch wenn er mit dem Sinn solcher Gleichnisse wahrscheinlich nichts anfangen konnte.
    »Es gibt Spione in dem Hotel«, sagte er. »Das hat Lilly gesagt: ›Spione und Flittchen.‹«
    Ich konnte mir denken, daß »Flittchen« in Lillys Vorstellung etwas Kleines waren wie sie selbst, und ich versuchte Egg zu beruhigen und ihm klarzumachen, daß man vor den Bewohnern des Freudschen Hotels keine Angst zu haben brauchte; ich sagte, Vater werde sich um alles kümmern - und hörte das Schweigen, mit dem wir beide, Egg und ich, das Versprechen hinnahmen.
    »Wie werden wir da hinkommen?« fragte Egg. »Es ist so weit weg.«
    »Mit einem Flugzeug«, sagte ich.
    »Wie das ist, weiß ich auch nicht«, sagte er.
    (Tatsächlich wollten wir mit zwei Flugzeugen fliegen, da sich Vater und Mutter nie in dasselbe Flugzeug setzten; viele Eltern sind so. Auch das erklärte ich Egg, aber er sagte nur immer wieder: »Ich weiß nicht, wie es sein wird.«)
    Dann kam Mutter in unser Zimmer, um Egg zu trösten, und ich schlief ein, während sie noch miteinander redeten, und wachte wieder auf, als Mutter im Hinausgehen war; Egg schlief jetzt. Mutter kam an mein Bett und setzte sich neben mich; ihre Haare waren offen, und sie sah sehr jung aus; ja, im Halbdunkel hatte sie viel Ähnlichkeit mit Franny.
    »Er ist erst sieben«, sagte sie von Egg. »Du solltest mehr mit ihm reden.«
    »Okay«, sagte ich. »Willst du denn nach Wien?«
    Und natürlich zuckte sie mit den Achseln - und lächelte - und sagte: »Dein Vater ist ein guter, guter Mann.« Es war eigentlich das erste Mal, daß ich sie im Sommer 1939 sehen konnte: wie Vater Freud versprach, er werde heiraten und er werde Harvard besuchen - und wie Freud Mutter nur um eines bat - Vater zu verzeihen. War es das, was sie ihm verzeihen mußte? Und war die Tatsache, daß er uns aus der schrecklichen Stadt Dairy herausriß, aus der erbärmlichen Dairy School und aus dem ersten Hotel New Hampshire, das nicht gerade ein Superhotel war (auch wenn das keiner aussprach) -, war das wirklich so schlimm, was Vater da machte?
    »Magst du Freud?« fragte ich sie.
    »Eigentlich kenne ich Freud gar nicht«, sagte Mutter.
    »Aber Vater mag ihn«, sagte ich.
    »Dein Vater mag ihn«, sagte Mutter, »aber er kennt ihn eigentlich auch nicht.«
    »Was meinst du, wie wird der Bär sein?« fragte ich sie.
    »Ich weiß nicht, wofür der Bär da ist«, flüsterte Mutter, »darum kann ich auch nicht raten, wie er sein könnte.«
    »Wofür könnte er wohl dasein?« fragte ich, aber sie zuckte wieder mit den Achseln - vielleicht dachte sie daran, wie Earl gewesen war, und versuchte sich zu erinnern, wofür Earl dagewesen sein könnte.
    »Das werden wir alle zusammen herausfinden«, sagte sie und gab mir einen Kuß. Es war ein Spruch wie von Iowa-Bob.
    »Gute Nacht«, sagte ich zu Mutter und gab ihr einen Kuß.
    »Bleib immer weg von offenen Fenstern«, flüsterte sie, und ich schlief.
    Dann träumte ich, daß Mutter starb.
    »Keine Bären mehr«, sagte sie zu Vater, aber er verstand sie falsch; er dachte, sie hätte das als Frage gemeint.
    »Doch, ein Bär noch«, sagte er. »Nur noch einer, ich versprech es.«
    Und sie lächelte und schüttelte den Kopf; sie war zu müde, um das Mißverständnis zu klären. Sie zeigte die leiseste Andeutung ihres berühmten Achselzuckens, und die Absicht dazu spiegelte sich auch in ihren Augen, die plötzlich nach oben gingen und aus dem Blickfeld verschwanden, und Vater wußte, daß der Mann in der weißen Smokingjacke Mutters Hand ergriffen hatte.
    »Okay! Keine Bären mehr!« versprach Vater, aber Mutter war bereits an Bord der weißen Schaluppe und stach in See. In meinem Traum war Egg nicht da; aber Egg war da, als ich aufwachte - er schlief immer noch, und da

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