Das Hotel
begehen.
Und trotzdem hatte sie es ohne zu zögern getan.
Weil sie meine Familie in ihrer Gewalt haben.
Das rückte so manches in eine andere Perspektive.
Wenn ich dazu bereit bin, meine Ideale und Moralvorstellungen für diejenigen hinzuwerfen, die ich liebe, warum habe ich dann so viel Zeit damit verbracht, völlig Fremden zu helfen?
Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, warum Letti so nachtragend wegen der versäumten Beerdigung ihres Schwiegersohns war. Sie hatte das Gefühl, als ob man ihr den Kopf in einen Kübel mit eiskaltem Wasser getaucht hätte.
Ich habe Mist gebaut, Letti. Ich werde es wiedergutmachen, das schwöre ich.
Sie verließ das Grover-Cleveland-Zimmer und schlich quer über den Flur zum Lyndon-B.-Johnson-Zimmer.
Für den habe ich nie etwas übriggehabt. Schauen wir doch mal, ob jemand zu Hause ist.
Sie legte die Hand auf den Türknauf. Das Zimmer war unverschlossen. Kurz zuvor hatte sie sich die Pistole des Sheriffs genauer angesehen und festgestellt, dass noch zwei Kugeln übrig waren – eine davon unter dem Hammer. Florence hielt die Waffe in einer Hand und stürmte ins Zimmer. Dann hielt sie die Pistole mit beiden Händen fest, damit es nicht so leicht sein würde, sie ihr aus den Fingern zu reißen.
Das Zimmer hatte weder ein Bett noch einen Tisch oder eine Kommode. Stattdessen war es in ein unheimliches rosa Licht getaucht, das aus drei Vitrinen stammte, die an der gegenüberliegenden Wand aufgereiht waren.
Florence hatte schon so manches gesehen, doch das hier übertraf alles.
Als sie ein Kind gewesen war, kam einmal ein Wanderzirkus in ihre Stadt. Ihr Vater bezahlte extra, damit auch sie in das Freakshow-Zelt durfte. Florence zuckte damals bei dem Anblick der deformierten Missgestalten zusammen. Manche waren echt, andere nicht. Ein Mann ohne Arme und Beine. Eine Frau mit einem Vogelgefieder. Ein Affenmann. Ein Mann, der sich Spieße durch Wangen und Zunge stach. Und eine Frau, die Glas aß. Das, was sich jedoch am meisten in ihr junges Gehirn einbrannte und ihr mehr Angst als alles andere eingeflößt hatte, war ein Glasbehälter gewesen.
» Ein eingelegter Punk«, hatte ihr Vater gesagt.
Florence erfuhr erst viel später, dass Punk ein spezielles Wort der Schausteller für ein missgestaltetes Baby war, das man in Formaldehyd konserviert hatte. Dieses Baby besaß vier Beine und einen Wolfsrachen.
Florence stand nun vor einer ganzen Wand derartiger Missgestalten in Glasbehältern, die von hinten angeleuchtet wurden. Blutreste im Formaldehyd gaben dem Ganzen einen rötlichen Schimmer.
Mein Gott, es sind Dutzende.
Babys mit unzähligen Extremitäten, Babys ohne Arme und Beine. Manche hatten angewachsene Organe, andere Arme an jenen Stellen, wo Beine hätten sein sollen, und umgekehrt. Wiederum andere besaßen Flossen wie Robben. Manche waren völlig behaart, andere winzig und hingen noch an der Nabelschnur. Sie waren kaum mehr als Embryonen. Einige passten fast nicht in ihre extragroßen Glasbehälter und waren geradezu hineingestopft worden.
Es gab missgebildete Köpfe, Blähbäuche, verdrehte Rückgrade, winzige Gliedmaßen. Die meisten von ihnen waren weiblich. Auf jedem Glas klebte ein Etikett, wo der Name und das Geburtsdatum festgehalten waren.
Sie sind alle nach den First Ladys benannt.
Ihr armen, armen Wesen.
Florence wollte sich nicht ausmalen, wie viele von ihnen eines natürlichen Todes gestorben waren und wie viele man umgebracht hatte. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und verließ dann so leise wie möglich das Zimmer, als ob sie die kleinen Missgeburten nicht wecken wollte.
Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu beruhigen. Doch bald suchte sie weiter.
Als Nächstes kam das Warren-G.-Harding-Zimmer. Wieder stand die Tür offen. Florence eilte hinein. Der Raum war völlig dunkel. Sie hielt inne und lauschte.
Ein Schnarchen. Ein lautes Schnarchen.
Florence tastete nach dem Lichtschalter und schaltete das Licht ein.
» Ma?«
Der Mann auf dem Bett war riesig. Sein Kopf – doppelt so groß wie ein normaler – sah genauso aus wie der des Elefantenmenschen in David Lynchs Schwarz-Weiß-Film. Die Stirn war von diversen knollenartigen Auswüchsen bedeckt. Die Wangenknochen waren uneben und zogen den Mund quer über das Gesicht. Auch sein Körper und seine Beine waren grotesk deformiert, verdreht und klumpig, wie knochige Baumstämme.
Proteus-Syndrom.
Florence wusste sofort, worum es sich handelte. Sie hatte es einmal in Südafrika
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