Das Imperium
übrig, als den Sänger hinrichten zu lassen, nachdem zwei von tiefer Trauer erfasste adlige Zuhörer Selbstmord begangen hatten.
Otema seufzte, legte das Dokument beiseite und begrüßte den Erinnerer Vao’sh. Der Historiker kam mit vielen Schriftrollen und handschriftlichen Unterlagen. »Vermutlich sind Sie noch nicht für weitere Teile der Saga bereit, Botschafterin Otema, aber ich habe einige besonders interessante Geschichten ausgewählt. Sie werden Ihnen gefallen.«
»Und auch die Weltbäume werden ihre Freude daran haben… Ach, wenn ich doch nur mehr Zeit hätte.«
Vao’sh lachte und es klang so freundlich, dass es Otema das Herz wärmte. »Mit diesem Problem habe ich es zu tun, seit ich Historiker geworden bin. Für einen Erinnerer ist der tragischste Tod ein zu früher, denn dann kann er nicht das vollständige Epos lesen und stirbt unerfüllt.«
»Zum Glück kann der Weltwald gleichzeitig Informationen aus verschiedenen Quellen aufnehmen«, sagte die alte grüne Priesterin. »Es ist nicht meine Lebensaufgabe, die ganze Saga vorzulesen. Ich möchte nur dafür sorgen, dass der Weltwald das ganze Epos erfährt, wie auch immer.«
Vao’sh legte die neuen Dokumente auf Otemas Schreibtisch. »Ich glaube, dabei können Ihnen die Erinnerer helfen, Botschafterin. Sie haben mir von großen Gruppen aus grünen Priestern und Akolythen erzählt, die den Weltbäumen auf Theroc vorlesen und ihnen Informationen übermitteln. Warum sollte sich das nicht auch hier bewerkstelligen lassen, mit anderen Lesern und anderen Teilen der Saga!«
Otema schöpfte Hoffnung. »Was schlagen Sie vor?«
»Der Weise Imperator hat mich angewiesen, Ihnen in jeder nur erdenklichen Weise zu helfen. In seinem Namen könnte ich andere Erinnerer, Sänger und selbst gewöhnliche Höflinge damit beauftragen, Teile der Saga den Bäumen vorzulesen. Wenn ich es richtig verstehe, ist nicht unbedingt ein grüner Priester erforderlich, um dem Weltwald Informationen zu übermitteln. Wir könnten also eine große Aufgabe in viele kleine Aufgaben teilen.«
Otema war begeistert. Sie hatte bereits daran gedacht, die Aufgäbe an die grünen Priester auf Theroc zu delegieren, ohne die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass auch Ildiraner den Weltbäumen vorlesen konnten. Für das Vorlesen war kein Telkontakt nötig – immerhin hatten die Akolythen auf Theroc noch nicht das Grün bekommen.
»Eine großartige Idee, Erinnerer Vao’sh. Mit Ihrer Methode ginge das Vorlesen der Saga viel schneller vonstatten.«
Mit einem zufriedenen Seufzen blickte Otema zu den neuen Dokumenten, die Vao’sh gerade gebracht hatte. Sie betrachtete die Symbole und stellte erstaunt fest, dass an einer Stelle die geheimnisvollen Klikiss-Roboter erwähnt wurden. Sie erinnerte sich daran, eine andere lange Stelle des Epos gelesen und darin nach Hinweisen auf das Insektenvolk gesucht zu haben, doch die Klikiss waren verschwunden, bevor die ildiranische Geschichtsschreibung begann.
Otema drehte sich rasch um, als Vao’sh das Zimmer verlassen wollte. Sie rief ihn zurück. »Ich habe eine Frage, Erinnerer. Mit ist klar, dass ich nur einen winzig kleinen Teil der Saga kenne, aber ich habe kaum etwas über die Klikiss-Roboter gefunden. Die ersten wurden doch von Ildiranern entdeckt, irgendwo auf einem Mond, nicht wahr? Hier in Mijistra habe ich mehrere jener Roboter gesehen und ich weiß, dass sie auch auf anderen Welten des Ildiranischen Reiches präsent sind.«
»Klikiss-Roboter haben auch die Terranische Hanse besucht«, sagte Vao’sh und die Hautlappen in seinem Gesicht verfärbten sich. Otema wusste diese Zeichen noch nicht zu deuten.
»Stimmt, aber das Ildiranische Reich ist viel älter. Gibt es bei Ihnen Geschichten darüber? Warum sind Informationen über die Klikiss so rar? Einst waren sie eine wichtige Zivilisation, so wie Ihre. Verschwanden sie vor der Entstehung des Ildiranischen Reiches?«
Vao’sh wirkte verwirrt und schien zu überlegen, wie er die Frage beantworten sollte. Seine Verwunderung deutete darauf hin, dass er nicht oft über diese Angelegenheit nachgedacht hatte.
»Die Klikiss und ihre Roboter sind Teil einer anderen Geschichte«, sagte der Erinnerer schließlich. »Ihrer eigenen. Vielleicht spielen sie keine Rolle in unserer Geschichte oder in Ihrer.«
Er wich zurück, und seine Hautlappen zeigten ungewöhnliche Farben. »Oder vielleicht ist jener Teil der Geschichte noch nicht geschrieben.«
86 NIRA
Die kristallenen Balkone des Prismapalastes
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