Das Implantat: Roman (German Edition)
ein Mensch
bin,
erkennt er nicht.
Mit seinem roten Gesicht und den hervortretenden Adern am Hals wirkt Charles aufgeplustert wie ein Kampfhahn. Er ist so voll mit Adrenalin, dass beim Sprechen seine Hände zittern. »Joe Vaughn hat uns im Fernsehen oft genug gewarnt, dass wir uns vor Leuten wie euch in Acht nehmen müssen«, erklärt er. »Ihr nehmt uns die Jobs weg, macht die Schulen kaputt und jagt Häuser in die Luft.«
»Du kannst mich nicht einfach rausschmeißen. Wir haben einen Mietvertrag.«
»Nein, nicht mehr. Laut bundesstaatlichem Gesetz habt ihr Amps gar nicht das Recht, mit normalen Menschen Verträge abzuschließen. Genauso wenig wie ich einen Vertrag mit einem Behinderten abschließen darf, darfst du einen mit mir abschließen. Weil du zu
schlau
bist.«
»Das Gesetz wird angefochten, Charles. Es ist noch nicht amtlich.«
»Nach Meinung des höchsten Gerichts in diesem Land schon. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat entschieden, dass ihr nicht unter besonderem Schutz steht. Klingt für mich ziemlich amtlich.«
Gesetz. Amtlich.
Ich habe das Gefühl, Dominosteinen beim Fallen zuzusehen. Nicht geschäftsfähig? Das bedeutet kein Mietvertrag, kein Arbeitsvertrag, keine Heiratsurkunde. Kein Leben.
Weitere Leute sind stehen geblieben, um zu gaffen. Ein Pärchen. Ein älterer Mann. Die meisten sind einfach neugierig. Andere beäugen interessiert meinen Kram.
Charles ballt die Hände zu Fäusten und lässt die Arme an den Seiten herabhängen. Durch zusammengebissene Zähne presst er hervor: »Verschwinde jetzt endlich.«
Ich beuge mich über einen der Kartons und krame darin herum, bis ich einen alte Sporttasche finde. »Verdammt, gib mir ’ne Minute …«
Einige der Leute machen sich tatsächlich über meinen Besitz her. Andere beobachten mich mit unbeteiligten Mienen. Die Diebe gehen mit meinen Sachen davon, ohne mich anzusehen. Ein alter Mann, der eine meiner Lampen in der Hand hält, steigt so beiläufig über meine Hand, als sei es ein Riss im Bürgersteig.
»Ich rufe die Polizei«, warnt Charles mich.
Schnell packe ich weitere Sachen in die Tasche. Einige Klamotten, Schuhe, eine Packung Müsliriegel. Irgendwelche Haushaltgeräte werde ich wohl nicht mehr brauchen, Möbel ebenso wenig. Das Laptop hat bereits jemand mitgehen lassen.
Während die Anzahl meiner restlichen Einrichtungsgegenstände immer weiter schrumpft, sehen die Schaulustigen zu, ohne mich wirklich wahrzunehmen. Ihre Gesichter sind vollkommen ausdruckslos. Warum ist das so? Haben sie Mitleid mit mir? Oder haben sie Angst? Kann es sein, dass sie wirklich gar nichts bei alldem fühlen?
Ich hoffe, ähnliche Szenen spielen sich nicht gerade überall im Land ab. Menschen, die wie ich schnell noch ein paar Habseligkeiten zusammenklauben müssen. Ganze Familien vielleicht sogar, die die kümmerlichen Überreste ihres Lebens einsammeln. Wenn das der Fall ist, macht es keinen großen Unterschied, was diese Geier hier um mich herum denken oder fühlen. Ob ich in ihren Augen nun ein Über- oder Untermensch bin, Gott oder Tier, das ist dann ganz egal.
Ich bin kein vollwertiger Bürger mehr. Für den Umgang mit mir gibt es keine festen Regeln.
Als die Tasche voll ist, suche ich das Weite. Lasse Charles mit seinen geballten Fäusten und dem hässlichen Grinsen im Gesicht auf dem Bürgersteig stehen. Ich dränge mich an den Gaffern vorbei und gehe meines Weges.
Es ist alles auf kleinen Stückchen Papier niedergeschrieben.
Du sollst nicht. Du sollst.
Die Regeln stehen da, damit wir sie im Kopf behalten und befolgen können. Wenn die Regeln offensichtlich wären, müssten wir sie nicht aufschreiben.
Mit den Fingern kämme ich mir die Haare so, dass sie die Buchse an meiner Schläfe verdecken, betrete die Bank, bei der ich mein Konto habe, und stelle mich in die Warteschlange. Die starrenden Blicke der Leute brennen sich mir förmlich in die Haut. An der Wand steht ein Sicherheitsmann, hat die Daumen seiner fleischigen Hände in seinen Gürtel geklemmt und beobachtet mich aufmerksam. Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Die Frau am Schalter ist ein bisschen misstrauisch, lässt mich aber trotzdem mein gesamtes Geld abheben. Sie stopft die 1800 Dollar in einen Umschlag und gibt ihn mir.
Während ich die Bank verlasse, muss ich mich zwingen, nicht zu rennen. Einfach ganz ruhig weitergehen. Und weiter nachdenken.
In einem überklimatisierten Schnellrestaurant hole ich mein Handy hervor und rufe bei meiner Schule an. Die
Weitere Kostenlose Bücher