Das Implantat: Roman (German Edition)
»Wenn ein unterdrücktes Volk sich erhebt, wundert sich niemand. Wir sind nicht die Aggressoren, Gray. Wir sind Freiheitskämpfer und reihen uns in die Tradition unserer Vorfahren ein, die für ihre Menschenrechte eingestanden sind. Sie wollen uns unsere Rechte vorenthalten? Dann nehmen wir sie uns. Wir nehmen uns alles, was wir wollen.«
Aus den Augenwinkeln kann ich die Motorhaube von Lyles Pick-up sehen, der nicht weit die Straße hinauf geparkt ist. Ich weiß, dass der Schraubenzieher, den man zum Anlassen benötigt, vor dem Beifahrersitz auf dem Boden liegt. Langsam lehne ich mich von der Leiter weg. Spüre den Wind über meinen Nacken streichen.
»Okay«, sage ich.
»Du wirst also kämpfen?«, fragt Lyle und senkt zögernd die Pistole.
»Ja«, antworte ich. »Ich werde kämpfen.«
Und dann lasse ich die Leiter los.
18
Schwindel
N ach zehn Stunden Fahrt fühlen sich meine Augen an wie rissige Porzellankugeln. Nicht einmal Lyle war schnell genug, um meine Flucht zu stoppen. Ich habe den Truck angelassen und aufs Gas getreten, bevor er auch nur einen Schuss abgeben konnte.
Seitdem fahre ich mit Höchstgeschwindigkeit zurück nach Eden. Ich muss unbedingt Jim finden.
Ein paar Blocks von Jims Baustelle entfernt hat plötzlich der Verkehr angefangen, sich zu stauen. Als ich die vielen Leute sah, die sich versammelt hatten, habe ich lieber eine Seitenstraße genommen und Lyles Pick-up in einem mit Sträuchern überwachsenen Graben abgestellt.
Jetzt ist der Truck endlich aus, aber in meinem Körper kann ich immer noch das Vibrieren der Straße spüren. Auch meine Hände scheinen das Lenkrad nicht loslassen zu wollen. Ich lege meinen Unterarm aufs Steuer und ruhe einen Moment meine schweißbedeckte Stirn darauf aus. Die Wunde an meiner Hand pocht im Rhythmus meines Herzens.
Denk nach.
Was ich im Radio gehört habe, klang verworren. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Zeitlich aufeinander abgestimmte Bombenanschläge in mehreren Städten. Einstürzende Gebäude. Hunderte Tote, vielleicht Tausende. Astra bekennt sich zu den Angriffen, spricht von einem neuen Krieg, der nun begonnen habe. Lyle kommandiert Tausende Amp-tragender Kämpfer. Er hat eine ganze militärische Hierarchie aufgebaut. Für Kampftraining und Upgrades gesorgt. Er will eine neue Welt aufbauen, und ich bin zu spät gekommen, um ihn aufzuhalten.
Auf dem Parkplatz vor der Baustelle herrscht Chaos. Er quillt über von schreienden Demonstranten. Das sind nicht mehr nur die paar frustrierten Typen, die ihre Arbeit verloren haben. Von überall her sind wütende Pure-Pride-Anhänger hier zusammengekommen. Ich frage mich, was Lyle mit ihnen vorhat.
Das große Maschendrahttor ist verschlossen. Unmittelbar dahinter überragt eine vertraute Gestalt die Köpfe der anderen. Kein Zweifel: Es ist Brain, flankiert von Dutzenden von Männern, die zu Lyles Gang in Eden gehören. Sie haben hinter dem dünnen Maschendraht Stellung bezogen und beobachten mit herausforderndem Blick die Demonstranten. Provozieren sie mit ihren grinsenden Gesichtern und vor der Brust verschränkten Armen.
Lyle hat keinen Unsinn geredet.
Ich steige aus dem Truck. Klettere im hinteren Teil der Baustelle über den Zaun und passe auf, dass Brain mich nicht sieht. Auf der Baustelle arbeiten nur ungefähr halb so viele Leute wie sonst. Mit stur gesenkten Köpfen machen die alten Männer weiter ihre Arbeit, während draußen die wütende Menge immer größer wird.
Ich suche die Baustelle nach Jim ab, bis einer der Arbeiter nach oben zeigt.
Als ich vier Stockwerke höher von dem hölzernen Baugerüst steige, lädt der alte Mann gerade bündelweise Stahlstreben vom Kran ab und legt sie in langen Reihen aus, damit sie in den Beton gesenkt werden können. Trotz des Wahnsinns, der unten um sich greift, verrichtet er mit tuckernden Motoren und schweißtropfendem Kinn unbeirrt seine Arbeit. Seine Bewegungen wirken zugleich bedächtig und routiniert.
»Hey!«, rufe ich.
Jim dreht sich zu mir um und mustert mich schweigend. Er bemerkt den improvisierten Verband an meiner Hand. Seufzend legt er ein Bündel wippender Stahlstreben auf dem Boden ab.
»Lass mich das mal ansehen«, meint er.
Der Erste-Hilfe-Kasten wird im Erdgeschoss verwahrt. Jim signalisiert dem Kranführer, dass er fertig ist. Dann steigt er mit mir auf dem knarrenden Gerüst nach unten. Die Unterkellerung für die Tiefgarage befindet sich nach wie vor im Bau, und wenn ich die drei Stockwerke tiefe Grube betrachte,
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