Das Inferno
aber gehen.«
»Wie bitte?«, sagte Vernon und grinste Thunder herausfordernd an. »Da fehlt doch noch was, oder?«
Thunder zog sich ein paar Baumwollhandschuhe an, griff in die Tasche und holte einen dicken weißen Umschlag voller Fünfzig-Pfund-Noten hervor, den er seinem Gast aushändigte.
Es waren genau zehntausend Pfund, die er schon für Vernon vorbereitet hatte, aber indem er den Dicken um das Geld nachfragen ließ, hatte er das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Die Handschuhe trug Thunder, damit später auf dem Umschlag keine Fingerabdrücke von ihm festgestellt werden konnten. Während Vernon die Scheine zählte, verließ Thunder die Bibliothek.
Auf dem Weg nach draußen wies er den Kellner an, seinem Gast noch einen doppelten Scotch zu bringen. Das würde Vernon gefallen, aber – und das war viel wichtiger – es würde ihn auch daran hindern, das Gebäude gleich hinter Thunder zu verlassen. Der Minister wollte unter keinen Umständen in Begleitung eines so seltsam gekleideten Menschen wie Oskar Vernon gesehen werden.
Schon während Paula an der Garderobe des in der Nähe des Piccadilly gelegenen Restaurants Martino’s ihren Mantel abgab, entdeckte sie Aubrey Barford, der an einem Tisch in einer Nische saß und Rotwein trank. Die Flasche vor ihm war schon halb leer.
Das kann ja heiter werden, dachte Paula. So wie der aussieht, ist er schon ziemlich dicht.
Als Aubrey sie sah, stand er auf und warf dabei fast die Flasche um, die er im letzten Moment aber noch zu fassen bekam. Offenbar stolz auf seine Reflexe, grinste er Paula selbstzufrieden an und wollte ihr einen Begrüßungskuss geben, dem sich Paula aber dadurch entzog, dass sie schnell auf die Bank ihm gegenüber schlüpfte.
»Willkommen zu unserem kleinen Bankett«, sagte Aubrey mit einer schon etwas undeutlichen Stimme. »Was wollen Sie trinken?«
Paula ignorierte ihn und wandte sich selbst an den Kellner, der soeben an den Tisch getreten war. »Ich hätte gern die Seezunge, mit Bohnen, aber ohne die Kartoffeln, wenn das möglich ist«, sagte sie. »Und keine Vorspeise, bitte. Zu trinken möchte ich ein stilles Mineralwasser ohne Eis oder Zitrone.«
»Ich nehme dasselbe wie die Dame«, sagte Aubrey. »Und ein kleines Schäumchen dazu, sagen wir eine Flasche Krug.«
»Aber Sie bestellen den Champagner hoffentlich nicht für mich«, sagte Paula.
»Wieso denn nicht? Heute… machen… wir… einen… drauf.«
In den Pausen zwischen den Worten ließ er seine Finger über das Tischtuch wandern, das der Kellner wieder glatt gestrichen hatte.
»Nun seien Sie doch keine Spielverderberin«, sagte Aubrey, als er Paulas indigniertes Gesicht sah. »Den Schampus habe ich doch extra wegen Ihnen bestellt.«
»Aber ich möchte keinen. Wenn die Flasche also für mich sein sollte, bestellen Sie sie bitte wieder ab.«
Aubrey schüttelte den Kopf und machte ein seltsames Gesicht. Dann füllte er sein Glas und trank es auf einen Zug halb leer. Paula griff nach einem Stück Weißbrot und strich Butter darauf. Aubrey sah ihr zu und grinste sie blöde an.
»Wie geht es Ihrem Vater?«, fragte Paula.
»Der alte Haudegen geht mir zurzeit ziemlich auf den Geist.
Von wegen Ruhestand. Der kann keine fünf Minuten stillsitzen.
Wissen Sie…« Er beugte sich vertraulich vor. »Ich will Ihnen mal ein… Geheimnis anvertrauen. Muss aber… unter uns… bleiben. Mein alter Herr fliegt wie ein Verrückter in der Weltgeschichte herum… Brüssel, Paris, Berlin, Stockholm.« Er hielt inne und trank von seinem Wein. »Woher ich das weiß… fragen Sie sich jetzt bestimmt.«
Paula wurde mit einemmal klar, dass sich ihr die einmalige Gelegenheit bot, den angetrunkenen Aubrey auszuhorchen, ohne dass dieser sich dessen bewusst war. Sie trank einen Schluck Wasser und schaute ihm offen in die glasigen Augen.
»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte sie. »Das haben Sie doch alles frei erfunden.«
»So, meinen Sie? Dann will ich Ihnen mal was erzählen, meine schöne Paula. Ich verstecke mich öfter mal im Arbeitszimmer meines alten Herrn im Schrank und bekomme da die sonderbarsten Telefonate mit. Na, was sagen Sie jetzt?«
Dass du ein widerlicher kleiner Schleicher bist, dachte Paula insgeheim, aber sie lächelte Aubrey an.
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich? Tatsächlich?
Na klar doch. Oder trauen Sie mir das etwa nicht zu?«
Obwohl Aubrey sie gerade auf eine ziemlich blöde Art nachgeäfft hatte, stützte Paula das Kinn in eine Hand und lächelte wohlwollend zu
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