Das Inselcamp
Macht schon: Packt die Bibeln aus!« Tamara griff wie selbstverständlich in die Jackentasche. »Genügt das Neue Testament?« »Besser als nichts«, meinte Jott ohne besondere Anerkennung. Auffordernd musterte er die zwölf.
Von den anderen hatte sich niemand gerührt. »Wird’s bald?«, drängte er. »Hab ich nicht mit«, sagte Britt gleichgültig. Jacques, Tom und Philip schlossen sich an. »Ich schau bei Tamara mit rein«, erklärte Pitt und legte sein Kinn auf ihre Schulter. Andi sah Hilfe suchend zu Judith, die in ihrem Rucksack kramte.
Simone richtete sich auf. »Ach, das ist jetzt schade, Herr Diakon«, sagte sie mit gekünsteltem Bedauern. »Selbstverständlich hatte ich meine Bibel dabei. Aber als Sie sagten, wir müssten alles Überflüssige zu Hause lassen – …« Sie überließ es der Fantasie der anderen, den Satz zu Ende zu denken.
»Gut«, sagte Jott, als Lena schließlich das Buch ihrer Tochter ans Licht beförderte, »wir werden die Bibel also teilen, so wie das tägliche Brot. Im Grunde genommen ist das gar nicht so verkehrt.« Er sah erneut zur Sonne. »Du fängst an«, sagte er dann, »Matthäus 5,13: Los, Pitt!«
Pitt, der sich gerade noch über Simones Antwort amüsierte, verlor alle Farbe. »Was?«, fragte er heiser. »Laut lesen? Hier? Vor – allen?« Er rückte von Tamara weg und kreuzte die Arme vor der Brust. »Die Möwen wird’s nicht stören«, bemerkte Tom. Er und seine Freunde vom Berg waren auf einmal sehr aufmerksam.
»Anders wirkt’s nicht«, sagte Lena plötzlich. »Ihr müsst euch das so vorstellen: Ein einzelner Mann, gefolgt von zwölf. Und dann, ringsum, eine große Menge von Leuten, die nicht recht wissen, was sie wollen. Der Mann scheint irgendwie bedeutsam. Er hat etwas, das einen nicht ruhig schlafen lässt.«
Lenas Stimme gewann Farbe. Man konnte auch sagen: Leidenschaft. »Sie können es nicht begründen«, sprach sie weiter, »aber sie haben das Gefühl, sie würden was verpassen, wenn sie nicht mitgingen. Sie drängen sich um ihn wie Küken um die Henne. ›Er kann heilen‹, flüstern welche. Und andere: ›Er ist Gottes Sohn.‹«
Ihre Stimme zitterte. »Und jeder dieser Leute«, fuhr sie fort, »hat irgendwas auf dem Herzen, irgendwas, das er loswerden will.« Die zwölf waren still. Sie starrten Judiths Mutter an und hörten zu. »Ja?«, sagte Jott, als sie schwieg.
»Und er, Jesus«, sagte Lena, »er hat wirklich was zu sagen. Wahrscheinlich nicht das, was sie hören wollen. Aber er ist tief überzeugt, dass es wichtig sei. Und er begreift, dass er eine Chance hat. Sie sind ja alle da. ›Was ich jetzt auch tue‹, sagt er zu Gott – ›es muss gut sein, es muss ein für alle Mal sein, es muss sie verlocken, weiterzusuchen.‹«
Obwohl Jott längst aufgehört hatte, sein Brot an die Möwen zu verfüttern, folgten sie kreischend dem Heck. Die zwölf achteten nicht darauf. »Also steigt Jesus auf einen Berg«, sagte Lena. »Er breitet die Arme aus und holt tief Luft. Und dann sagt er …«
»Ihr seid das Salz der Erde«, las Pitt. Er hatte Tamaras Buch in der Hand und war an die Reling getreten. Er stand über der Gischtwelle, die die Schubkraft des Schiffs erzeugte. Nässe spritzte bis zu ihm herauf. Er roch und schmeckte das Meer. »Ihr seid das Salz der Erde«, wiederholte er laut. »Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen?«
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Möwenschiet
Nach Pitt stellte sich Tom an die Reling und las, dann Philip, Jakob und Jacques. Die Leute, die außer ihnen auf der Fähre waren, lauschten im Vorübergehen. Manche schüttelten die Köpfe, andere lächelten, auf manchen Gesichtern lag freundliches Mitleid. Von den Mädchen traute sich Johanna als Erste, dann auch Simone. Judith hielt sich zurück. Sie hatte ihre Mutter im Blick und machte ein seltsames Gesicht.
»… der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.« Simone beendete ihren Abschnitt und sah auf. Niemand war aufgestanden, um ihr das Buch aus der Hand zu nehmen. Die Jungen waren froh, dass sie es hinter sich hatten. Tamara saß wie abwesend. Andi schien ebenso wenig zuzuhören wie Judith.
Zögernd ging Simone zu Britt, die sich den letzten Sonnenstrahlen entgegenräkelte. »Komm schon«, sagte sie. »Du willst doch Schauspielerin werden.« Britt blinzelte zu ihr herauf. »Lausige Rolle«, murrte sie. Da stieß Pitt sie an. »Zahnarzt ist schlimmer«, wisperte er und zwinkerte.
Britt schüttelte ihr Haar und stand langsam auf. Sie
Weitere Kostenlose Bücher