Das Internat
vielleicht jemand an der Tür erwartete. Matties Nervosität steigerte sich, als niemand auf das Klingeln reagierte. Die Flügeltüren waren massiv. Dass eine von ihnen nur angelehnt war, erkannte Mattie bei genauem Hinsehen. Sollte sie hineingehen?
Einige Minuten lang wartete sie und fragte sich, ob sie in eine Falle gestolpert war. Im Haus mochte alles ruhig sein – Mattie nicht. Ihr Puls ging unregelmäßig, ihr Mund war trocken. Niemals hätte sie von dem Herzwein trinken dürfen, nicht einmal die winzige Menge auf ihrer Zungenspitze. Das Ritual verlangte es, und Mattie hatte gehofft, dass das die Magie der Zeremonie zurückbringen würde. Trotzdem war das Kraut hochgiftig und Matties Kreislauf daran nicht gewöhnt. Sie war nicht mehr so immun dagegen, wenn sie es überhaupt jemals gewesen war.
Sie läutete noch einmal und wartete auf eine Reaktion.
Du wirst keine andere Chance bei diesem Kerl mehr kriegen. Öffne die Tür und geh hinein. Tu überrascht, wenn jemand da ist.
Nachdem Mattie sie entschlossen aufgedrückt hatte, schwang die Tür langsam zurück und Mattie betrat eine große Halle, die aussah, als wäre sie extra so gestaltet worden, dass Sterbliche sich darin klein und unbedeutend vorkämen. Der riesige, zweistöckige Raum war leuchtend weiß gekalkt. Darin standen so viele Marmorstatuen, dass die Halle Mattie an einen Göttertempel erinnerte.
Von der Rückwand gingen Balkone ab, deren Marmorfassaden kunstvoll gestaltet und mit Gold ausgemalt waren. In der Mitte der Halle zierten zwei aufgebäumte Einhörner einen schwarzen Granitbrunnen. Wasser floss aus ihren Hörnern, und das Sonnenlicht schimmerte regenbogenfarben in den sich wie Schwerter kreuzenden Strahlen.
Mattie meinte, Schritte gehört zu haben, und drehte sich um. Hatte jemand den Raum betreten? Das plätschernde Wasser schien alle anderen Geräusche zu verschlucken.
"Entschuldigen Sie, dass ich nicht heruntergekommen bin, um Sie zu begrüßen."
Die Stimme eines Mannes erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine dunkle Gestalt zeichnete sich hinter dem Brunnen ab, und Mattie entdeckte eine große Treppe, die vom zweiten Stock in diesen höhlenartigen Raum führte.
Als David Grace die Stufen hinunterging und auf sie zukam, versteifte sich Mattie. In seinem weißen Seidenhemd und den Leinenhosen sah er extrem sympathisch aus, der perfekte Gastgeber. Dennoch hatte Mattie keine Ahnung, was sie erwartete, besonders wenn er die Scharade durchschaute und sie erkannte. Fast wünschte sie sich, dass die eisige Stille zurückkehrte und sie betäubte, damit sie die Furcht nicht mehr spüren müsste. Dann bemerkte Mattie seinen Gesichtsausdruck, ihr wurde klar, dass ihre Bemühungen gefruchtet hatten.
Breezes Make-up und Matties innerer Zauberer hatten sie verwandelt.
David Grace' intensiver Blick hätte eine der Statuen aus der Halle zum Leben erwecken können, Venus wahrscheinlich. Er schien wie in Trance. Schweigend musterte er Matties Aufmachung, von der blitzsauberen weißen Bluse und dem karierten Rock, einer Uniform der Rowe-Akademie, bis hin zu den italienischen Halbschuhen, die sie trug. Was Mattie in seinen Augen aufblitzen sah, war nicht so sehr männliches Verlangen. Es war Ehrfurcht. Er schien verzaubert zu sein von ihrem schüchternen Lächeln und ihrem ungelenken Versuch, verführerisch zu wirken, so als stünde er einer Märchenprinzessin gegenüber.
"Die einsamen Mädchen wollten sich bei Ihnen bedanken", sagte sie und hoffte, dass der Klang ihrer Stimme den Bann nicht bräche.
"Ich verstehe." Er brachte die Worte hervor, aber sie klangen rau. "Woher konnten sie das nur wissen?"
Sie zuckte die Schultern, als ob sie sagen wollte, dass sie keine Ahnung hätte. Wenn Mattie bedachte, dass sie Grace' Verhältnis zu Ivy gar nicht kannte, gab es keine sichere Antwort. Sie war ziemlich sicher, dass die Bilder Ivy abbildeten, aber Grace war nicht der Künstler, wie er angedeutet hatte. Das war Ivy selbst. Die Erkenntnis war Mattie in den Kopf geschossen, als sie Breeze und Jane von den Zeichnungen erzählt hatte. Traurige Gesichter hatten zu Schulzeiten Ivys Leidenschaft gegolten. Obwohl sie ihre Bilder niemandem gezeigt hatte, zweifelte Mattie nicht daran, dass es ganze Blöcke voll davon gab. Dass sie es nicht schon früher erkannt hatte, überraschte Mattie.
Sie zupfte an ihrem Haar und wünschte, sie könnte die wilden Locken einfach aus dem Gesicht schieben. Breeze hatte eine Perücke aus wunderschönem rotem Haar gefunden, die
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