Das Internat
Praktisch betrachtet ergab es wahrscheinlich keinen Sinn, dass alle drei ihr Leben opferten. Es stimmte, dass Jane allein und ohne das Wissen der Freundinnen gehandelt und es über zwanzig Jahre geheim gehalten hatte.
Ob Jane sich dem tatsächlich allein stellen wollte? Sie hatte einen Johanna-von-Orléans-Komplex und es steckte vielleicht etwas von einer Märtyrerin in ihr. Aber Jane konnte nicht durchdacht haben, was sie gerade gesagt hatte. Wenn sie als Erwachsene verurteilt würde, müsste sie den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen.
"Und ihr dürft mich auch nicht im Gefängnis besuchen", sagte Jane.
Mattie seufzte innerlich. Das war so typisch für Jane, die Mutterlöwin, die ihre Jungen beschützte.
Breeze zeigte sich dagegen völlig unbeeindruckt. Die Hände in die Hüften gestützt, ging sie zu Jane und sah ihr direkt ins Gesicht. "Ich streite nicht mit dir. Ich sage dir nur, dass du nicht allein untergehen wirst."
"Hört, hört!" Mattie zog die Champagnerflasche aus dem Kühler und trotzte der furchtlosen Führerin ihrer Jugend, Seite an Seite mit Breeze. Mit ihrer freien Hand zog Mattie Jane auf die Füße. Das brauchte mehr Mut als Kraft.
"Wir haben das zusammen begonnen", sagte Mattie. "Wir bringen es auch gemeinsam zu Ende."
Vielleicht erkannte Jane, dass es zwecklos war. Sang- und klanglos wollte sie dennoch nicht aufgeben. Um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen, funkelte sie beide an, bis sie nicht mehr konnte. Schließlich nahm sie Mattie die Flasche aus der Hand, trank einen Schluck Champagner und reichte die tropfende Magnumflasche an Breeze weiter.
Schweigend tranken sie, doch Augenblicke später brachen die Frauen in Gelächter aus und umarmten sich. Niemand musste etwas sagen. Sie wussten alle, dass sie zusammen drinhingen.
Tria juncta in uno. Amicus usque ad aras.
Drei sind eins. Freunde bis zum äußersten Ende.
Als die alten Sätze in Matties Kopf widerhallten, spürte sie einen Anflug von Entschlossenheit in sich und einen winzigen glühenden Funken von etwas anderem. Wahnsinn vielleicht. Gab es eine Chance, dass sie heil aus der Sache herauskamen? Es war das erste Mal seit Grace' Tod, dass Mattie überhaupt ein Gefühl von Kontrolle hatte.
Mattie war auf dem Weg zum alten Gerichtsgebäude, als ihr Handy klingelte. Eine Hand am Lenkrad, angelte sie danach in ihrer Tasche. Wegen des Damoklesschwerts, das Mattie sprichwörtlich über dem Kopf schwebte, kehrte sie nicht offiziell zur Arbeit zurück. Aber sie wollte ihre Post durchsehen und den Papierkram erledigen, der sich auf dem Schreibtisch türmte. Sie hoffte, in der Ruhe ihres Büros klarer denken zu können als in der Intensivstation, wo sie eine lange Nacht neben Jamesons Krankenlager verbracht hatte.
Er zeigte immer noch keinerlei Reaktionen. Mittlerweile lag Jameson schon seit acht Tagen da, und die Ärzte sorgten sich zunehmend um seinen Zustand. Mattie konnte keine klaren Antworten bekommen, sie verstand nicht, warum die Medizin nach all den wundersamen Fortschritten bei einem Komapatienten so aufgeschmissen zu sein schien. Wie schwierig konnte es sein, jemanden aufzuwecken? Warum hatten sie dafür noch keine Lösung gefunden?
"Wo ist das Telefon?" Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, tastete Mattie in der Tasche herum. Noch ein Klingeln und die Mailbox würde angehen. Da war es. In der falschen Seitentasche. "Hallo?"
"Miss Smith?", fragte eine männliche Stimme. "Könnten Sie bitte so schnell wie möglich ins St. Luke kommen? Es geht um Jameson Cross."
"Ich bin schon auf dem Weg", sagte Mattie und lenkte den Wagen auf die linke Spur, um zu wenden. "Ist alles in Ordnung mit ihm?"
"Der Arzt möchte mit Ihnen sprechen", sagte der Mann. "Er wird es Ihnen erklären."
Für Mattie klang das besorgniserregend, aber sie wollte nicht nachfragen. Sie rechnete bereits aus, wie lange sie bis zum Krankenhaus brauchen würde. Hatten sie ihn verloren? Würde sie sich wenigstens von Jameson verabschieden können?
Aufgewühlt von diesen Gedanken, fuhr sie eine halbe Stunde später auf den Parkplatz des Krankenhauses. Die Intensivstation befand sich in der fünften Etage. Statt auf den Aufzug zu warten, lief Mattie die Treppenstufen hinauf. Vor dem Zimmer angekommen, öffnete sie ohne zu zögern die Tür und sah, dass Jamesons Bett leer war.
"Oh Gott, nein", flüsterte sie. Entschlossen, herauszufinden, wohin man ihn gebracht hatte, stürzte sie aus dem Zimmer. Grauenhafte Bilder aus dem Krematorium tauchten vor ihrem
Weitere Kostenlose Bücher