Das Isaac-Quartett
sie ihre krasse Ausdrucksweise bereuen. »Er geht auf die fünfundvierzig zu, Manfred. Das ist ein gefährliches Alter. Isaac braucht seinen Vater. Er muss Joel sehen, damit er weiß, dass noch Jahre vor ihm liegen.«
Coen setzte sie an der Crosby Street ab. Er würde den Wagen auf Isaacs Stellplatz in der Polizeigarage parken, ins Präsidium marschieren, Staub von Isaacs Schreibtisch pusten und im Namen seines Chefs Telefonate entgegennehmen. Er würde sagen: »Abteilung O’Roarke, Inspektor Sidel«, und Marilyns Parfum würde sich auf seiner Haut entfalten.
Die offiziellen Besuchszeiten im Nebengebäude in der Crosby Street waren vorbei, aber Marilyn kam ohne Schwierigkeiten rein. Keiner der Wächter konnte sich an den Namen ihres derzeitigen Mannes erinnern. Man kannte sie als »Miss Sidel«. Selbst der Gefängnisaufseher wollte es sich nicht mit Marilyn verscherzen. Er brachte Leo persönlich zu ihr und murmelte Schmeicheleien über Isaacs Reise vor sich hin. »Er wird ganz Paris lehren, wie man die Gauner schnappt. Darauf können Sie wetten, Miss Sidel.«
Leo bewegte sich nur mühsam in der viel zu großen Gefängniskluft. Es fiel ihr schwer, ihn als Onkel zu betrachten. Sein Leben lang würde er Isaacs kleiner Bruder sein.
Leo war unbeschadet von den üblichen Gefängniszwängen. Er bestimmte seinen Tagesablauf selbst, zog sich Süßigkeiten aus einem Automaten und machte die Wächter in Pinokel, Dame und Bridge nieder. Verbrecher, mit denen er sich hätte einlassen können, gab es hier nicht. Nur Fälle wie Leo, Männer, die mit ihren Alimentenzahlungen im Rückstand waren und wegen Missachtung ihrer Pflichten festgehalten wurden. Kriminalbeamte hatten Leo aus dem überfüllten Foyer des Gebäudes, in dem er arbeitete, gezerrt, ihn den schmachvollen Blicken der leitenden Angestellten, der Einkäufer und Tippsen ausgesetzt und ihn aufgrund einer Klage seiner früheren Ehefrau in Handschellen abgeführt. Den Kriminalbeamten war ebenso unwohl wie Leo. Sie fühlten sich elend bei der Vorstellung, dass sie als die Männer gelten würden, die dem Bruder Isaacs des Gerechten an den Kragen gegangen waren.
Marilyn hatte eine Schwäche für Leo. Sie besuchte ihn nicht als Isaacs mitfühlende Tochter. Mit Leos Notlage konnte sie sich identifizieren. Leo stand ihr näher als ihre übrigen Verwandten: Beide hatten kaputte Ehen hinter sich, beide waren lebendigen Leibes gehäutet worden.
Sie konnten sich im Besuchszimmer des Gefängnisses umarmen und küssen, ohne von den Wächtern angeschnauzt zu werden. »Freust du dich auch so, Marilyn? Ich kann atmen. Es ist durchgesickert, dass Isaac das Land verlassen hat. In den nächsten Tagen werde ich Fett ansetzen. Was ist mit dir?«
Marilyn dehnte die Umarmungen aus.
»Onkel Leo, ich wünschte, ich hätte dreitausend, um dich hier rauszuholen. Würde das der blöden Selma reichen? Wenn du willst, erwürge ich sie für dich. Isaac könnte mich sicher wieder rauspauken. Du wärst dann allerdings ein Witwer mit Kindern. Haben Davey und Michael dich schon besucht?«
Leos Züge verdüsterten sich. Er machte sich von Marilyn los. »Die stecken mit ihrer Mutter unter einer Decke«, sagte er. »Sie schreiben mir gehässige Briefe. Selma zwingt sie, ihre Schönschrift an mir zu üben. Ich höre ihre Stimme hinter jedem Wort. ›Papi, du bringst uns ins Grab.‹ Marilyn, diese Frau hat genug Geld, um einen Elefanten darunter zu ersticken. Sie bewahrt ihre Sparbücher in einem alten Büstenhalter auf.«
Marilyn war aufgebracht über ihre Unfähigkeit, Leo zu helfen. Ihre beiden letzten Männer waren reich gewesen, doch sie war arm zurückgeblieben. Sie musste Coen anpumpen.
»Ich könnte Sophie oder Isaac fragen, Leo. Einer von beiden blecht sicher.«
»Niemals. Marilyn, vergiss nicht, dass ich im Oktober zweiundvierzig geworden bin. Kann ich meine Mutter anbetteln oder sehen, was beim großen Isaac zu holen ist? Lieber sollen sie mich rausholen und erschießen. Wie sie mich erledigen, ist mir gleich. Solange Sophie nichts davon erfährt. Isaac hat Mama doch nichts davon erzählt, oder? Ich rufe sie jeden Morgen an. Ich erzähle ihr, dass ich in einem Hotel ohne Telefon im Zimmer wohne. Komisch, dass sie heute nicht ans Telefon gegangen ist. Sie muss den Laden dichtgemacht haben, um neuen Plunder einzukaufen.«
»Isaac baut viel Scheiße, aber er petzt nicht. Nicht deinetwegen. Ihm wäre es zu unbequem. Er würde eurer Mutter erklären müssen, warum du im Gefängnis
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