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Das Isaac-Quartett

Das Isaac-Quartett

Titel: Das Isaac-Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jerome Charyn
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sitzt. Stell dich nicht an, Leo. Ich rede mit Sophie. Ich gehe jetzt gleich hin.«
    Auf dem Weg zur Tür sogen sich die Wächter Banalitäten aus den Fingern. Sie bangten um Isaacs Gunst. »Wir kümmern uns um Leo, Miss Sidel. Wir sorgen dafür, dass er sich wie in einem Country Club fühlt.«
    Marilyn überquerte die Bowery und begab sich in Isaacs Territorium: die puerto-ricanisch-jüdische East Side. Sie lächelte über die alte Synagoge in der Forsyth Street, die jetzt ein »Templo Adventista« war; der Judenstern in dem kleinen Fenster dicht unter dem Dach war noch intakt. Später würde sie in der Orchard Street Unterwäsche kaufen, aber erst musste sie Sophie besuchen.
    Israel hatte sich die Essex Street unter den Nagel gerissen. Aprikosen aus Galiläa, Pflaumen aus Haifa und Spaghetti made in Tel Aviv überwogen in den Schaufenstern der kleinen Lebensmittelgeschäfte. Ihr wurde klar, was für einen Schlag das für ihre Großmutter bedeuten musste, die für die Diaspora kämpfte, für heimatlose Araber und Juden in einem nicht jüdischen Universum. Die übliche Menge Plunder stand nicht vor Sophies Tür. Gab sie Suppe an die Tippelbrüder aus? Oder hatte sie eine Ziege beim christlichen Metzger aufgespürt? Die Tür war angelehnt.
    Marilyn wusste nichts über Pflaumen aus Haifa. Sie hatte eine irische Nase und Erinnerungen an Kommunionshandschuhe und sabbernde Priester. Heißblütig wie sie war, ließ sie mit zwölfeinhalb den Raub ihrer Unschuld zu. Mit vierzehn erstreckte sich ihr Ruhm von Riverdale bis Washington Heights, und einige ihrer Unterhosen vermoderten in den Kellern der Fordham Road. Die Frühreife der Villenviertel verband sie nicht mit ihrer mysteriösen Großmutter, Sophie der Hamsternden. Das jedenfalls war Marilyns Sicht der Sachlage. Sophie würde ihr eigenes Porzellan nicht kränken, um einem Landstreicher Zuneigung zu erweisen. Dazu war sie zu vorsichtig. Marilyn stieg über die kaputten Kinderwagen, die Sophie besonders schätzte. Sie waren in einem desolaten Zustand. Keinen konnte man von der Stelle bewegen. Doch sie hatte die Gestelle mit Unmengen von Draht zusammengeschnürt.
    Marilyn wagte sich tiefer in den Laden vor. Bei den zerfetzten Lampenschirmen dachte sie sich noch nichts. Das hätte Sophies Werk sein können. In einer Ecke lag ein Stapel Decken mit eigentümlichen Ausbuchtungen. Sophies Arm schockierte sie nicht; ohne einen Makel an den schönen Adern ruhte er in einer natürlichen Lage. War dies ein angemessener Schlafplatz für eine Großmutter?
    Marilyn zog an den Decken. Sie folgte dem Verlauf des Armes.
    Sophies Kopf tauchte auf. Die Blutlache, in der er lag, hatte sich in eine zähflüssige, gallertartige Masse verwandelt. Die gallertartige Masse reichte bis zu den Ohren. Die Abdrücke an ihrer Stirn erinnerten an eine Gürtelschnalle, die sich in Haut einfrisst. Marilyns Schreie kamen trocken und abgehackt heraus. Sie torkelte zum Telefon. Der Gedanke an einen Krankenwagen lag ihr fern. In ihrer Panik fiel ihr nichts anderes ein, als Coens Nummer zu wählen.
3
    Isaac saß in einem feuchten Palast am Quai Voltaire. Er hatte kalte Füße. Von Waffenschmieden, pensionierten Kriminalbeamten, Herstellern von Schnüffelvorrichtungen und einem Team von Spezialisten aus den Gerichtslaboratorien in Brügge und Antwerpen umgeben, versuchte er, mit seinem Schulfranzösisch über die Runden zu kommen. Er wurde mit Fragen bestürmt, bis er nur noch Brocken aus diesem Wirrwarr entschlüsseln konnte. Isaac fühlte sich elend. Sein erster Spaziergang in Paris hatte ihn als gebrochenen Mann zurückgelassen.
    Durch New York gewappnet hatte er geglaubt, er könne mit geschwollenen Augen ankommen, seinen Honig schlecken und die ganze Stadt verächtlich betrachten. Für Sehenswürdigkeiten fehlte ihm der Instinkt. Isaac gehörte nicht zu der Sorte von Menschen, die sich wie durch Schwerkraft zum Eiffelturm und den Marsfeldern hingezogen fühlten.
    Vor einigen Monaten war Herbert Pimloe, der Harvardabsolvent, der dem First Deputy unterstand und aufs Reisen versessen war, aus Paris zurückgekehrt und hatte Isaac einen Zeitungsausschnitt mitgebracht, in dem ein gewisser Monsieur Sidel erwähnt wurde, ein Porträtmaler mit ständigem Sitz in einem Hotel an der Avenue Kléber in der Nähe des Arc de Triomphe. »Chef«, hatte Pimloe gesagt und voller Stolz mit einem Finger auf den Zeitungsausschnitt gedeutet. »Besteht da möglicherweise eine Verwandtschaft?« Isaacs Kehle brannte. Er hatte

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