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Das Isaac-Quartett

Das Isaac-Quartett

Titel: Das Isaac-Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jerome Charyn
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seinen Turnschuhen würde Rupert sich eine Lungenentzündung holen. Philip hätte ihn nicht ohne ein anständiges Unterhemd aus dem Haus gehen lassen dürfen. Der Junge hatte kein Gespür für Kälte. Ihm mussten erst die Daumen abfrieren; bis dahin lag ihm die Vorstellung von Frostbeulen fern. Wie konnte Philip ihm Zeichen geben? Sollte er Halstücher an seiner Feuerleiter flattern lassen? Er lachte bitter über seine eigene Unzulänglichkeit. Seine Energie hatte gerade noch dazu ausgereicht, Vater zu werden. Seine Frau, ein russisches Mädchen mit einem ansehnlichen Busen und einem flachen Hinterteil hatte ihm elf Jahre lang in die Augen geschaut und war davongelaufen, als Rupert noch keine sechs Jahre alt war. Sonia, die Stalinistin, musste wohl einen anderen Lebensinhalt gefunden haben als einen Mann, der für Trotzki und das Schachspiel gestorben wäre, und einen Sohn, der ihrem Mann ähnlicher sah als ihr. Es hieß, sie lebe jetzt in Oregon mit einer Horde von Apfelpflückern zusammen, eine grauhaarige russische Dame.
    Philip verfluchte sich. Ein Vater sollte das Recht haben, seinen Sohn als Gefangenen zu halten, wenn auch nur für kurze Zeit. Er wollte den Jungen mit Fragen löchern, mit brutalen Fragen, nicht mit dialektischen Schachzügen, die Rupert die Möglichkeit gaben, ein schäbiges Schema zu erfinden, einen rationalen Vorwand dafür, alte Ladenbesitzer zu erschrecken und Isaacs Mutter ins Bellevue zu schicken. Doch Philip war machtlos; seine eigenen Fragen wären an Rupert abgeprallt und hätten sich gegen ihn selbst gerichtet. Wenn Rupert einen Dibbuk in sich trug, einen Dämon, der an seinen Eingeweiden nagte, dann stellte sich die Frage, wer ihm diesen mitgegeben hatte. Ein solcher Dibbuk konnte nur vom Vater an den Sohn weitergegeben werden. Die Gewalt, die Philip seinem Körper angetan hatte, das Abnagen seiner eigenen Glieder, die Selbstzerfleischung, der er sich stückweise hingab, der Quatsch, sein Leben in modrigen Räumen zu verbringen, das Gift der Schachformeln, Grade des Abschlachtens, die er auf einem Spielfeld auslebte, die wahnsinnige Zärtlichkeit für diese hölzernen Figuren, Bauern, Türme und Könige, musste ein entsetzliches, uneinheitliches, hinterhältiges Tierchen erschaffen haben, das unter Ruperts Haut gekrochen war, nach seinen Hoden gegriffen hatte, seine Eingeweide zusammenzog und hysterische, wirre Störungen in seinem Gehirn verursachte. Philip war der Dibbuk. Niemand sonst.
     
    Rupert war auf der Flucht. Er musste gegen das Gewicht in seinen Taschen ankämpfen, die durcheinanderkugelnden, sich aneinanderreihenden Flaschen und Konservenbüchsen, gegen den Wind, der den gewaltigen Jackenkragen aufschlug; die Jacke hatte er aus einem schmuddeligen Bungalow gestohlen, der den Streifenbullen gehörte. Sein Bauch gluckerte von den Essiggurken, die er in der Wohnung seines Vaters verschlungen hatte. Er konnte nicht gleichzeitig über eine Baustelle stürmen und Gurken und Hüttenkäse verdauen. Sein mühsamer Lauf wurde von entsetzlichem Schluckauf unterbrochen. Er ging den Käufern aus dem Weg, die aus der Brotfabrik an der Grand Street drängten und große Tüten mit Zwiebelbrot mit sich trugen. Sie hätten ihn erkennen können. Dann hätten sie geschrien, Zwiebelbrot in sein Gesicht gekrümelt und nach dem großen jüdischen Chef gerufen, nach Isaac Sidel, oder einfach nach dem nächsten Streifenpolizisten. Er hatte nicht die Geduld, den Krümeln auszuweichen und sich Zwiebeln aus den Augen zu wischen. Er war auf dem Weg zu Esther Rose.
    Rupert konnte Esthers Inbrunst nicht vollständig erfassen. Sie kam aus einer Jeschiwe in Brownsville, die nur die Töchter der Sephardim Brooklyns aufnahm. Die Jeschiwe, die zwischen Puerto Ricanern, Schwarzen und rauen polnischen Juden angesiedelt war hatte Tore auf allen Seiten. Sie war uneinnehmbar. Keinem der polnischen Juden gelang es, sich Zutritt zu den Gebetsräumen und der Bibliothek zu verschaffen. Die Mädchen wurden durch eine Hintertür eingeschleust. Sie fanden wenig Gelegenheit, sich näher anzuschauen, was sich außerhalb der Jeschiwe abspielte. Sie kannten die hypnotische Lichtstärke einer Fünfundzwanzig-Watt-Birne. Geländer konnten sie im Dunkeln ertasten. Sie besaßen die Gabe, Ladino zu rezitieren, das Kauderwelsch aus mittelalterlichem Spanisch und Hebräisch, das in dieser Jeschiwe ausschließlich gesprochen wurde. Die sephardischen Priester, die die Schule leiteten, nahmen es auf sich, jedes der Mädchen in die

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