Das Isaac-Quartett
Hysterie zu treiben. Die Mädchen mussten sich darüber klarwerden, welch wertlose Geschöpfe sie waren. Die Größe ihrer Brustwarzen, die widerspenstige Form ihrer Brüste, die ersten Anzeichen von Schamhaaren, die blutigen Flecken in ihren Unterhosen machten sie kleinmütig und verzagt. Nichts auf Erden als das gemeine Weib war mit dem Fluch einer Menstruationsblutung gestraft; so wurden sie von ihren Lehrern unterwiesen. Nach einer Art Tauschhandel unter den Familien waren bereits Ehemänner für sie ausgewählt worden. Nur ein Mädchen, das den Rückhalt eines Familienvermögens aufzuweisen hatte, konnte einen anständigen Ehemann für sich beanspruchen, der im Allgemeinen doppelt so alt war wie sie.
In der Brownsville-Schule für sephardische Mädchen erlernte Esther die Rituale der Ehe; man lehrte sie, welche Schleier sie tragen werde, wie die Menstruationstabellen zu führen waren, die ihrem Gatten eine Warnung vor den genauen Tagen ihrer Unreinheit sein würden. Das bekam Esther sieben Jahre lang mit; sie murmelte Gebete, wenn sie versehentlich ihre Brustwarzen oder ihre Spalte berührt hatte, träumte von ihrem Leben als Arbeitstier für ihren zukünftigen Ehemann und seine Familie, tauschte mit einer sündigen Klassenkameradin Schamhaare aus, spürte zu Beginn ihrer Periode Rasierklingen in ihrem Leib und verachtete jede Regung in ihren Eingeweiden, Schweiß und die Farbe ihres Urins. Einen Monat vor dem festgesetzten Tag, an dem sie einen Kaufmann mit Haaren in der Nase heiraten sollte, lief Esther davon. Sie trieb sich in Brooklyn herum und arbeitete für die Telefongesellschaft. Dann ging sie zur JDL. Ihre Eltern, die in einer Enklave von Spaniolen zwischen Coney Island und Gravesend lebten, schlossen Esther in ihre Gebete für die Toten ein. Die Vorstellung, eine Tochter zu haben, die einen Ehevertrag brach, um sich der Jewish Defense League in die Arme zu werfen, war ihnen unerträglich. Zionismus bedeutete Esthers Leuten nichts. Israel war ein Ort für Deutsche, Russen und Polen, die in den Augen der meisten Sephardim Barbaren waren, denn sie erinnerten sich an die Freundlichkeit, die die Mauren den spanischen Juden entgegengebracht hatten. Esther Roses Vorfahren, Mathematiker, Propheten und Geldverleiher, hatten unter der arabischen Herrschaft ihre Blütezeit erlebt; den Sephardim des südlichen Brooklyn fiel es schwer, gerechtfertigten Groll gegen die Ägypter und die Saudi-Araber zu empfinden. Auch gegen die Syrer und Libanesen der Atlantic Avenue hatten sie nichts.
Rupert war vor einem halben Jahr vor der russischen Botschaft in Manhattan auf Esther Rose gestoßen. Sie trug ein Plakat, das die Unversöhnlichkeit der Sowjets gegenüber dem israelischen Staat anprangerte. Sie schaffte die Polizisten und Anwohner der Fifth Avenue, indem sie eine alte, stinkende Bluse und einen Wickelrock trug, der ihre ungewaschenen Knöchel und Knie freilegte. Mit ungekämmtem Haar und Fingernägeln, die so viele Zacken wie eine Säge hatten, stürmte sie auf ihre Gegner los. Rupert konnte seinen Blick nicht von Esther Rose losreißen. Noch nie hatte er ein Mädchen gesehen, das so nah am Rande des Abgrunds lebte. Esther fiel der pausbäckige Junge auf, der sie anstarrte. Sie biss ihm nicht die Augenbrauen aus. Sie ließ sich nicht von seinen fetten Backen täuschen; sie blickte tiefer. Das war kein Junge, der sich durch Plakate oder raue Fingernägel erschrecken ließ.
In einer Spelunke an der Third Avenue trank sie Mokkamilch mit ihm. Er platzte mit seinem Alter heraus: fünfzehn. Sie hatte ein Kind aufgegriffen – Esther würde schon in zwei Jahren zwanzig werden. Die dicken Backen enthielten eine Gelehrsamkeit, die einem Mädchen aus einer Jeschiwe unter den Büstenhalter ging. Dieses Baby redete über Sophokles, Rabbi Akiba, den heiligen Augustin, den Baal Schem, Robespierre, Nikolai Gogol, Hieronymus Bosch, Huey P. Newton, Prinz Kropotkin und Nicodemus von Jerusalem. Er hatte die irren, zuckenden Augen eines sephardischen Priesters und die sauren Finger eines jungfräulichen Knaben. Sie wäre mit Rupert unter den Tisch gekrochen, hätte ihn mit Mokkasirup auf der Zunge geleckt. Aber die Mokkamilch hatte ihn zurückhaltend gemacht. Es war ihm suspekt, sich unter den Blicken der Bedienung auf eine Lage Schaben und Bonbonpapier zu legen.
Esther verließ sich auf ihren Scharfsinn. Sie entschied sich für die Atlantic Avenue, denn sie wusste, dass es dort eine Matratze gab, die sie stundenweise leihen
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