Das Isaac-Quartett
Larry hatte keine feste Anstellung. Er hatte für ein makrobiotisches Restaurant auf der Gitarre geklimpert, auf der Straße Indienschals verkauft. Isaac hatte Larry nicht aus Manhattan verjagt; es war Marilyns eigene Schroffheit, die sie von Kathleen und Isaac geerbt hatte, die Hysterie eines irisch-jüdischen Kindes, die ihn dazu gebracht hatte, seine Gitarre zu packen und zu gehen. Sie war zu wild für ihre Männer. Ihre Hingabe war mit Klauen bewaffnet. Sie hätte am liebsten die Luft um ihn herum zerkratzt, um Larry vor ihrem Vater zu beschützen. Doch Larry war verschwunden. Für Coen brauchte sie niemanden zu kratzen. Blue Eyes hatte ein Halfter und einen Revolver.
Sie hörte ein Quietschen vom Fenster. Jemand drückte das Glas ein. Die Fensterrahmen rasselten. Marilyn sah einen Umriss im Schnee. In ihrem Fenster war ein Gesicht, ein Gesicht mit einem blutigen Auge und einer unheilverkündenden Nase. Sie schrie nicht nach Coen. Sie beobachtete den gekrümmten Jungen, ein Bein auf der Feuerleiter, das andere im Zimmer ihres Vaters. Bei diesem Sturm trug er Turnschuhe und einen komischen Polizistenmantel. »Seien Sie nicht schüchtern, Mr. Schneehase, kommen Sie rein«, sagte Marilyn mit der Decke im Schoß. Für einen Jungen im Fenster bedeckte sie sich nicht.
Blue Eyes kam auf Marilyns Ruf hin aus der Badewanne. Er hatte den Wein abgespült, den Marilyn auf ihn gegossen hatte. Durch Blut in einem Auge ließ er sich nicht täuschen: Er erkannte Philips Sohn von den Rundschreiben her, die Isaacs Leute ausgeteilt hatten. Doch was Rupert mit einem Löffel in der Faust tat, war ihm unverständlich. Coen hatte nichts an. Er spürte ein Frösteln an seinen Eiern. Rupert kletterte aus dem Fenster. Coen schnappte seine Hose und sein Hemd. Er hatte keine Zeit, sich die Schuhe zuzubinden. Marilyn zog an seinen Hemdzipfeln. »Manfred, was zum Teufel geht hier vor?«
Blue Eyes ließ seine Waffe im Bad; mit einem fünfzehnjährigen Banditen duellierte er sich nicht. Er musste Marilyns Hand von seinem Rücken entfernen. »Das ist der Krieg deines Vaters«, sagte er. Er stand schon auf der Feuerleiter, ehe Marilyn sich wieder an ihm festhalten konnte. Der Wind bauschte sein Hemd. »Jesus«, sagte Coen. Die Feuerleiter schwankte wie ein Boot. Er spürte, dass sie von der Wand losreißen und auf die Straße krachen würde. Trotzdem folgte er Rupert nach oben. Das war kein Leichtsinn von Coen. Nichts konnte ihn von der Feuerleiter vertreiben. Er musste Rupert schnappen.
»Blue Eyes«, murmelte Rupert auf der Leiter. Er hätte sich denken können, dass Isaacs Liebling ihm alles verderben würde. Er achtete nicht mehr auf die Sprossen und hüpfte gekrümmt weiter, packte mit den Händen, trat mit den Füßen. Er hatte es auf’s Dach abgesehen. Seine Füße verhedderten sich in der Leiter, sein rechter Schuh klemmte sich unter der Seitenstange der Leiter ein, zwischen zwei Sprossen. »Verdammt noch mal«, sagte er und versuchte seine Ferse aus dem Turnschuh zu befreien.
Die Leiter bebte unter Coens Gewicht und unter dem des Jungen. Blue Eyes musste sich mit beiden Armen an die Leiter klammern, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er bewegte sich mit den krabbelnden Bewegungen eines Babys nach oben. Er wischte sich Schnee aus den Augenbrauen, um Ruperts Kampf mit der Leiter besser beobachten zu können. »Wart auf mich, Rupert.« Der Schnee dämpfte seine Stimme.
Ruperts Ferse war frei. Er ließ den Turnschuh in der Falle hängen und kletterte weiter. Mit dem nackten Fuß fand er keinen Halt auf der Leiter. Sie schlüpfte ihm davon. Er packte mit der Hand zu und griff neben die Sprosse über seinem Kopf. Er fühlte Schnee und Luft zwischen seinen Fingern. Er fiel. Seine Lippen formten keine Schreie. Keine bunten Träume verfolgten ihn, als sein Körper durch die Luft wirbelte. Er sah keine Esther vor sich, keine Marilyn, keinen Isaac. Er erinnerte sich an nichts als das Gesicht seines Vaters. Das Kinn, das sich von vierzig Schmerz-Jahren eingezogen hatte. Sein Mund öffnete sich. Er versuchte, »Papa« zu sagen.
Blue Eyes konnte Ruperts Sturz nicht aufhalten. Der Junge überschlug sich in immer größeren Bögen außerhalb von Coens Reichweite. Es war ein gefährlicher Wunsch: Coen hatte keine Stahlzangenarme, um einen stürzenden Körper aufzufangen. Ruperts Körper hätte ihn von der Leiter gerissen. Coen spürte den Aufprall in dem Schneehaufen in seinen Augenhöhlen. Sein Blick wurde leer. Das Beben setzte sich bis
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