Das ist nicht wahr, oder?
Gedanken kam, wir gehörten zu den Familien, die lebende Luchse im Haus hielten. Leider hatte mein Vater etwas ganz anderes vor, und ich riss entsetzt die Augen auf, als er sich vorbeugte, mit seiner dröhnenden Stimme munter »HALLOOOO, VICTOR« brüllte und ihm den Luchs in den Schoß warf.
Die meisten, die das lesen, glauben jetzt wahrscheinlich, dass mein Vater potenziellen Freiern einen solchen Schrecken einjagen wollte, damit sie seine Töchter immer mit größtem Respekt behandelten, aber das war nicht einmal entfernt seine Absicht. Er hätte den Luchs genauso unbeschwert mir oder meiner Mutter in den Schoß fallen lassen, hätten wir nicht einen siebten Sinn für die bedrohlichen Geräusche entwickelt, die mein Vater verursachte, wenn er ganz leise sein wollte. Zur Verteidigung meines Vaters sei gesagt, dass es sich um einen eher kleinen Luchs handelte, den mein Vater gerade aufpäppelte und anschließend aussetzen wollte, nicht um einen ausgewachsenen aus den Käfigen im Garten. Mein Vater hielt damals mehrere ausgewachsene Luchse, die allerdings selten ins Haus kamen, und wenn meine Mom einmal einen im Haus antraf, scheuchte sich ihn mit dem Besen in seinen Käfig zurück. Ich fragte Mom einmal, warum Daddy eigentlich Luchse hielt, worauf sie sagte, er sammle ihren Urin. Also deswegen,
yeah.
Alle Väter sammeln doch etwas. (Für die, in deren Gegend es keine Rotluchse gibt: Rotluchse sind wie kleine, gern unterschätzte Tiger. Sie weichen der Auseinandersetzung mit Menschen aus, aber wenn man sie zu sehr provoziert, beißen sie auch gerne mal zu. Man sollte sie meiden.)
Selbst wenn ich darüber nachgedacht hätte, wie Victor auf einen bärtigen Riesen reagieren würde, der mit einem Luchs auf ihn wirft, wäre ich wahrscheinlich nicht auf seine tatsächliche Reaktion gekommen. Er biss unwillkürlich die Zähne zusammen, erstarrte und sah den Luchs mit schreckgeweiteten Augen an. Dann blickte er verwirrt (aber bewundernswert gefasst und unter Vermeidung ruckartiger Bewegungen) zu meinem Vater auf. Vielleicht erwartete er ein verlegenes Gesicht, weil mein Vater den Luchs doch ganz bestimmt nur
versehentlich
aufihn hatte fallen lassen, oder er glaubte, mein Vater wäre über den Luchs auf seinem Schoß genauso schockiert und entsetzt wie er und würde gleich sagen, Victor solle sich nicht bewegen, er hole das Betäubungsgewehr. Stattdessen grinste mein Vater nur breit und streckte Victor die Hand hin, als sitze auf Victors Sessel nicht unerwartet ein Luchs. (Ein Luchs, wie ich hinzufügen könnte, der ebenfalls erschrocken und verärgert darüber schien, in eine derart unangenehme gesellschaftliche Situation gebracht worden zu sein.) Victor beäugte den Luchs misstrauisch (der jetzt Furcht erregende Laute von sich gab, wie Luchse es tun, wenn sie klarstellen wollen, dass sie keine Hauskatzen sind und auch nicht kuscheln wollen) und warf dann mir einen Blick zu, wie um abzuschätzen, ob ich den Einsatz lohnte. Er holte tief Luft, dann drehte er sich in Zeitlupe zu meinem Vater um und nahm seine Hand. »Henry«, sagte er gepresst und nickte zur Begrüßung. Die Angst war ihm kaum anzuhören. Dann wandte er sich wieder an meine Mutter und setzte das Gespräch fort, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Es war der Wahnsinn und ich glaube, er hatte damit unser aller Achtung gewonnen. Selbst der Luchs begriff, dass er bei Victor vermutlich sicherer war als bei dem Riesen, der ihn immer anderen Leuten in den Schoß warf. Er machte es sich neben Victor bequem und starrte uns andere missbilligend an.
Victor und ein Sortiment Rotluchse (mit denen ihn vermutlich nur das gemeinsame Misstrauen gegen meinen Vater verband). (Dementi: Das sind wirklich keine guten Bilder von Victor oder den Luchsen.)
Später sagte Victor mir, er wäre fast ausgeflippt, aber sein Dad hätte einmal einen Puma namens Sonny besessen, als er selber noch klein gewesen wäre, er hätte deshalb Verständnis für die exotischen Haustiere anderer Leute. Und es
war
ja auch schön, dass wir etwas gemeinsam hatten, etwas, das uns verband. Der Unterschied war nur, dass
sein
Vater Hubschrauber,Porsches und zahme Pumas hatte, weil er reich war und das auch gerne zeigte, während
mein
Vater Luchse wegen ihres Urins hielt. Aber das sagte ich nicht, weil wir doch das Gefühl hatten, dass uns etwas verband. Und auch weil ich das mit dem Urin selber nicht ganz verstand, obwohl man mir später sagte, dass es sich einfach um eine organische Methode
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