Das italienische Maedchen
Rosanna die Proben als Cover, was ihr Gelegenheit verschaffte, die Hauptrollen auf der Bühne zu singen und zu spielen.
Als im Verlauf der Saison weitere Opern ins Repertoire aufgenommen wurden, stellte Rosanna fest, dass Paolos Vorschläge genau richtig waren. Zwar mochte es nicht so glamourös sein, in Jeans und Sweatshirt auf der großen Bühne zu stehen und zu Klavierbegleitung zu singen, wie in vollem Kostüm mit großem Orchester vor zweitausend Menschen aufzutreten, aber so konnte sie sich Fehler erlauben. Eine zwei- bis dreiminütige Arie vorzutragen war die eine Sache, zu lernen wie man eine schwierige Rolle bis zu drei Stunden lang ausfüllte, eine ganz andere.
Manchmal hatte Rosanna das Gefühl, gleichzeitig gegenläufige Bewegungen auszuführen. Sie musste nicht nur den Text, die Musik und die Bühnenchoreografie im Kopf behalten, sondern lernte auch, wie man eine Figur zum Leben erweckt. Riccardo erklärte ihr, dass die großen Sopranistinnen außergewöhnliche Stimmen besaßen und vollendete Schauspielerinnen waren, die das Publikum emotional berührten.
Hin und wieder gelang es Rosanna, alles richtig zu machen, und dann ereigneten sich – wie Paolo es ausdrückte – »magische Momente«. Rosanna lebte ganz für diese Augenblicke, wusste aber, dass es noch lange dauern würde, bis sie in der Lage wäre, sie bei jedem ihrer Auftritte zu schaffen.
Es war Mitte Mai, und Rosanna sang gerade in dem schwierigen Liebesduett aus dem ersten Akt von Madama Butterfly . Paolo hatte sich im Parkett unbemerkt zu Riccardo gesellt. Die beiden lauschten gebannt.
»Rosanna wird immer besser«, stellte Riccardo fest.
»Sie lernt Bühnentricks, erwirbt Erfahrung und vor allen Dingen Reife. Wenn es so weitergeht, lassen sich, glaube ich, meine Pläne für La Bohème im nächsten Dezember verwirklichen«, meinte Paolo.
»Sie wird mal eine der ganz Großen. Eine Entdeckung der Scala.«
»Ja, wie Roberto Rossini.«
»Sprechen Sie über mich?«
Paolo erhob sich. » Ciao , Roberto.«
Roberto wirkte verärgert. »Wir hatten um drei einen Termin in Ihrem Büro. Ihre Sekretärin hat mir gesagt, dass Sie im Theater sind, also bin ich hergekommen. Ich fliege in zwei Stunden nach Kopenhagen.«
»Tut mir leid, Roberto. Ich habe die Zeit vergessen.«
Nun erst blickte Roberto auf die Bühne. »Rosanna Menici.«
»Ja. Sie studiert diese Saison die weiblichen Hauptrollen als Cover ein.«
»Ich weiß. Was für eine Stimme! Aber der Tenor, der den Pinkerton singt, ist grässlich. Lassen Sie mich ihr zeigen, wie es klingen muss.«
Roberto marschierte, bevor Riccardo oder Paolo widersprechen konnte, auf die Bühne und signalisierte dem Pianisten, dass er aufhören solle.
Rosanna und Fabrizio Barsetti, der junge Mann, der den Pinkerton sang, blinzelten überrascht.
»Verzeihung, aber Signorina Menici und ich sind alte Freunde. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mit ihr das Liebesduett singe?«
Der junge Tenor, dem nichts anderes übrig blieb, als einzuwilligen, verließ die Bühne.
»Wir beginnen bei ›Viene la sera‹.« Roberto nahm Rosannas Hände in die seinen. »Keine Angst. Sing, wie du immer singst, ich passe mich an«, flüsterte er ihr zu. »Los geht’s.« Er gab dem Pianisten ein Zeichen.
Roberto fing zu singen an, und Rosanna fiel ein.
Riccardo und Paolo sanken verzückt in ihre Sitze zurück. Die beiden Stimmen, die eine erfahren und kraftvoll, die andere frisch und jugendlich, vereinten sich auf köstlichste Weise. Auch ihr Aussehen harmonierte: Sie zart und zerbrechlich, er stark und männlich.
»Die reine Magie«, flüsterte Paolo.
Als sie geendet hatten, sahen Rosanna und Roberto einander an, als wären sie allein auf der Welt.
Riccardo ergriff Paolos Arm. »Sie ergänzen einander so gut; sie müssen zusammen eine Premiere singen.«
»Ich hatte sowieso vor, heute Nachmittag mit Roberto über die Bohème zu reden«, erklärte Paolo.
»Du hast viel gelernt, meine Kleine«, lobte Roberto Rosanna, die vor Aufregung rote Wangen hatte. »Vielleicht ein bisschen mehr Vibrato am Schluss, aber abgesehen davon … Du bist ein echter Profi. Entschuldige mich, ich muss los. Paolo erwartet mich.« Er küsste Rosannas Hand, gab Paolo ein Zeichen und nickte Riccardo zu. » Ciao , Riccardo.«
Paolo und Roberto verließen den Raum.
»Sie bereiten Signorina Menici also auf ein Leben als Star vor?«, fragte Roberto, als sie die Treppe zu Paolos Büro hinaufstiegen.
»Sagen wir mal, ich glaube, dass sie enormes
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