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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Herzog nichts tut, brüllt sie erneut, wütend: »Los, du blöder Sack, spring! Ich fang dich auf!«
    Mattison weiß anfangs nicht genau, wer der Mann ist, der aus der Gasse gekommen ist. In einem Lava-Anzug sehen alle Menschen im Grunde gleich aus, und es ist auch nicht allzu leicht, im Helmfunk eine Stimme von der anderen zu unterscheiden. Mattison schaut sich um, nimmt eine rasche Bestandsaufnahme seiner Crew vor. Hawks ist hier, ja, und Prochaska, ja …
    Kann der Kerl an der Einmündung dieser Gasse Clyde Snow sein? Nein. Nein. Snow ist gleich da drüben, auf der anderen Seite des Pumpenwagens. Also muß es Blazes McFlynn sein, der in diesem Augenblick direkt am Rand eines diabolisch heißen Lavastroms steht und die Arme zu dem stammelnden und jammernden Nicky Herzog ausstreckt. McFlynn, ja, der irgendeinen Schleichweg zwischen den angrenzenden Gebäuden hindurch gefunden hat und so nah an den Toyota herangekommen ist, wie es nur geht. Unglaublich, denkt Mattison. Unglaublich.
    »Willst du wohl endlich springen, du blöde Schwuchtel!« brüllt McFlynn erneut. »Ich kann nicht den ganzen Scheiß-Tag lang hierbleiben!«
    Und Herzog springt.
    Er tut es mit der Grazie und dem Elan, mit denen er die meisten anderen Aspekte seines Lebens gemeistert hat, kommt in einer verrückten, zusammengekrümmten Korkenzieherhaltung ungefähr in McFlynns Richtung herunter und schlägt dabei mit Armen und Beinen wild um sich. McFlynn kriegt einen Arm und ein Bein zu fassen, als Herzog an ihm vorbei mit dem Kopf voran auf die Lava zusegelt, und hält beides fest. Aber so leicht Herzog ist, sein Schwung ist so groß und der Winkel, in dem er herunterkommt, so schräg, daß der größere McFlynn bei dem Aufprall stolpert, herumgedreht wird und aus dem Gleichgewicht gerät. Mattison, der entsetzt zusieht, begreift sofort, daß McFlynn mit Herzog in den Armen vorüber in den Lavastrom fallen wird und daß beide Männer sterben werden.
    McFlynn fällt aber nicht. Er macht einen schwerfälligen, taumelnden Schritt vorwärts, so daß sein linkes Bein nicht mehr als ein paar Zentimeter vom Rand des Lavastroms entfernt ist, und beugt sich fast bis zum Boden hinunter, so daß dieses Bein sein ganzes Gewicht und obendrein auch noch das von Herzog trägt. McFlynns linkes Bein ist das gebrochene, denkt Mattison, das nach der Billigoperation im County-Krankenhaus permanent nach außen geknickt ist. McFlynn steht einen sehr langen Augenblick vornübergebeugt da, gewinnt sein Gleichgewicht zurück, stellt sich auf seine Last ein, bekommt Herzog besser zu fassen. Dann richtet er sich auf, neigt sich nach hinten, dreht sich auf seinem gesunden Bein, schwingt sich in einem Hundertachtzig-Grad-Bogen herum und taumelt mit Nicky Herzogs regloser Gestalt über der Schulter triumphierend in die Gasse hinein.
    Mattison hat so was noch nie gesehen. Herzog kann nicht mehr als siebzig Kilo wiegen, aber mit dem Anzug kommen noch mal fünfundzwanzig dazu, und obwohl McFlynn eins achtzig groß und stämmig ist, wiegt er wohl kaum mehr als hundertfünf. Und hat ein kaputtes Bein, ungelogen, eine wirklich beschädigte Gliedmaße, mit der er gerade Herzogs gesamtes Gewicht aufgefangen hat, als der kleine Kerl von dem Toyota runtergestürzt kam. Es muß irgendein Zirkusakrobatentrick gewesen sein, den McFlynn angewendet hat, denkt Mattison, oder einer seiner Stuntman-Gags, denn sonst hätte er die Nummer nicht abziehen können. So groß und stark Mattison ist, und obwohl seine beiden Beine heil sind – er bezweifelt sogar, daß er selbst das geschafft hätte.
    McFlynn kommt jetzt um die andere Seite des Pumpenwagens herum. Er trägt Herzog nicht mehr auf den Armen, sondern schleift ihn einfach hinter sich her wie eine schlaffe Puppe. McFlynns Sichtscheibe ist offen, und Mattison sieht, daß seine Augen wie die eines Wahnsinnigen leuchten – der Adrenalinstoß, kein Zweifel – und daß seine schweißglänzenden Wangen von der Erregung gerötet sind.
    »Hier«, sagt McFlynn und wirft ihm Herzog praktisch vor die Füße. »Ich dachte, das blöde Arschloch würde nie mehr springen.«
    »Hey, gute Arbeit«, sagt Mattison grinsend. Er ballt die Faust und schlägt McFlynn damit leicht auf den Unterarm, eine Geste der Solidarität und Kameradschaft, von einem großen Kerl zum anderen. McFlynns Gesicht strahlt den wahren Glanz der Erlösung aus. Deshalb muß er es getan haben, denkt Mattison: um seine Weigerung vergessen zu machen, beim Transport der Pumpe zu helfen. Na

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