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Das Jahr der Woelfe

Das Jahr der Woelfe

Titel: Das Jahr der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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die Arme auf den Rücken gelegt. Da rannte Konrad nach Hause.
    Vor Willenberg war eine Batterie in Stellung gegangen. Sie schoss eine Stunde lang ohne Pause. Die Abschüsse klangen hohl und ließen die Scheiben leise zittern. Selten kam eine Antwort von den Russen. Das Dorf blieb noch verschont. Die Uferberge entzogen es der Feindeinsicht. Lange bevor es dunkel wurde, kehrte Vater zurück. Konrad eilte ihm entgegen. Vater kam ohne Arzt.
    »Reib Lotter gut ab. Er hat sich sputen müssen«, befahl ihm Vater und ging in die Küche.
    »Was ist los, Johannes?«, fragte die Mutter. Zuversicht lag wieder in ihren Augen, seit sie den Wagen auf der Straße gehört hatte.
    »Dr. Lukowski ist fort, Agnes, und viele andere auch. Ich hatte Mühe, mit meinem Wagen durchzukommen. Viele sind bereits unterwegs.«
    »Dr. Lukowski ist fort? Ich hatte ihn für einen Mann gehalten, der bis zuletzt ausharrt«, wunderte sich die Mutter.
    Vater blickte zur Seite und murmelte etwas. Albert meinte, es hätte nach »Das hat er wahrhaftig« geklungen.
    »Die Olbrischts sind auch gegen Mittag weg«, berichtete Hedwig.
    »Sieh an, der Olbrischt zuerst.« Vater lächelte ein wenig. »Wir werden die Vorräte aus dem Schuppen holen. Großvater hatte Recht. Sie stoßen an der Weichsel zur Ostsee hin vor. Das Schießen kommt von Westen, nicht von Osten. Morgen in aller Frühe brechen wir auf. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch hinausschlüpfen wollen.«
    »Und Großvater?«
    »Wir bauen ein Bett auf dem Wagen.«
    Vater hustete stark. »Die warme Küche«, keuchte er.
    »Lauf hinüber und sage Großvater, dass Vater zurück ist«, bat Mutter.
    Konrad lief davon.
    Großvater lag hoch gebettet. Konrad fasste seine Hand. Der alte Mann öffnete die Augen nicht, erwiderte aber leicht den Händedruck des Jungen.
    »Vater ist zurück aus der Stadt.«
    Der Kranke flüsterte. Konrad beugte sich zu ihm. »Jungchen. Sag ihnen, sie sollen immer zusammenbleiben. Niemals auseinander gehen, hörst du!«
    »Ja, Großvater.«
    »Und wenn du ein Mann bist, Jungchen, sorge mit, dass Frieden bleibt.« Er atmete mühsam. »Denke nie, du könntest allein Streit und Krieg nicht aufheben. Jeder ist wichtig. Jeder einzelne Mensch. Denn der Frieden, Jungchen, der Frieden ist ein Gut des Himmels, das du verdienen musst.«
    Seine Hand fasste den Jungen fester.
    »Du wirst eine neue Heimat finden, Jungchen. Aber im Herzen wirst du immer dieses Dorf tragen, ein langes Leben.«
    »Ja, Großvater.«
    Jetzt schlug der alte Mann die Augen auf. Er starrte auf das Kreuz. »Vater unser«, begann er.
    Konrad fiel ein. Er betete allein zu Ende. Großvater lag da und blickte fest auf das Kreuz. Sein Gesicht leuchtete klar und weiß. Sorgen und Schatten der Krankheit waren daraus hinweggenommen.
    Eine Weile blieb Konrad. Dann zog er sachte seine Hand aus der des Großvaters und schlich aus dem Haus. Es schnürte ihm den Hals zu.
    Mutter saß vor dem Herd. Er warf den Kopf in ihre Schürze.
    »Großvater ist tot.« Fremd klang seine Stimme.
    Vater zog die Mütze vom Kopf und eilte hinüber. Hedwig und Albert kauerten sich auf die Bank und weinten.
    »Lukas Bienmann ist tot«, sagte die Mutter. »Er wollte nicht fort von hier. Nun bleibt er für immer in seinem Dorf.«
    Hedwig hütete das Haus und die Kinder. Mutter ging zu Warczaks hinüber und trug ein weißes Hemd und ein großes Leinentuch über dem Arm. Die Warczaks wussten bereits von dem Toten. Alle wussten es schon. Nichts weht schneller durch die Gemeinde als der letzte Atemzug eines Menschen.
    »Gehst du mit und hilfst ihn betten?«, fragte die Mutter.
    »Ich helfe dir gern, Agnes. Der Lukas war ein guter Mann.«
    »Ja«, sagte die Mutter und ihre Augen glänzten dunkel. Sie schritten hinüber, langsam und ernst. »Und der Sarg?«, fragte die Warczak.
    »Johannes hat ein breites Bett zurechtgestellt. Wir decken das Tuch über ihn.«
    »Was für Zeiten«, jammerte die Nachbarin, »nicht einmal ein Sarg ist da für die Toten.«
    Sie gingen daran, dem großen, alten Mann den letzten Dienst zu erweisen.
    »Er liegt da wie ein Patriarch«, staunte die Warczak und trat einen Schritt zurück.
    Später fragte Albert: »Wo ist Großvater jetzt?«
    Sie antwortete mit größter Gewissheit: »Er ist im Himmel.«
    »Und der da drüben?«, wollte Albert wissen. Er deutete zum Holzhaus hinüber.
    »Das ist das Kleid, das er zurückgelassen hat, Junge, nur ein Kleid.«
    Sie standen im Hof, als die erste Granate am Ende der Dorfstraße krepierte.

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