Das Jahr der Woelfe
Agnes auf der Ausstellung in Braunsberg.« Er lächelte im Halbschlaf, als er daran dachte, dass seine Stute Pallas den ersten Preis geholt hatte. Gerade war sie gewachsen und gut hatte er sie gepflegt. Lotter war ihr Sohn. Und gäbe es eine Ausstellung, auch Lotter würde den Ehrenpreis holen. Später war er mit Agnes in ein flach gebautes Segelschiff gestiegen und weit aufs Haff hinausgeglitten. Wo damals Leben und Lachen war, gab es heute nur Trauer und Tod.
Rufe drangen durch das Geheul des Sturmes. Eine Trillerpfeife schrillte. Er erhob sich, wickelte den Schal fest und drückte die Mütze tief in die Stirn. Es musste längst Tag sein. Durch das Schneetreiben sah er das nächste Fuhrwerk nur wie einen Schatten. Und auch der verschwand. Er ergriff hastig die Zügel und trieb Lotter an, der mit steifen Beinen durch das Wasser stakte. Jetzt sah er den Wagen vor sich wieder. Ihn verlieren, das hieße den Weg verfehlen und in die Irre fahren.
Er schaute sich um und schrie in die Schneewand. Antwort schallte zurück. Der Schneesturm tobte schlimmer als zuvor. Waagrecht jagte der Wind die Flocken und warf sie gegen Wagen und Pferd. Das Heulen des Sturmes übertönte jeden Ruf und zuweilen sogar das Singen und Bersten des Eises.
»Die Kinder frieren, Johannes«, klagte die Mutter.
Vaters Gesicht war starr wie das Eis selber. Kaum vermochte er zu antworten. »Das Kind drüben schreit nicht mehr«, sagte er nur.
Franz wimmerte leise, Konrad spürte seine Finger nicht mehr, obwohl er mit Albert unter den Federn begraben lag. Der Sturm fand jede Ritze, jeden Spalt.
»Der Kornschnaps!«, sagte die Mutter.
»Ja, Frau, gib jedem von dem Korn«, stimmte Vater zu. »Und schütte mir einen doppelten ein. Als Medizin sozusagen.«
Mutter suchte im Rucksack und zog die Flasche hervor. Sie goss jedem Kind einen Schluck in den Becher. Franz sträubte sich zu trinken, doch sie hielt ihm die Nase zu und zwang ihn zu schlucken. Eine brennende Spur floss Konrad durch die Kehle. Er spürte sie bis zum Magen. Er schüttelte sich. Nebelbilder traten vor seine Augen.
Erst am Nachmittag schien die Gewalt des Unwetters gebrochen, doch schneite es fort und fort, böige Winde wirbelten die Schneeflocken durcheinander. Früh wurde es Nacht. Die zweite Nacht auf dem Eis.
Über dem Docht der Sturmlaterne versuchte Mutter in einem kleinen Topf ein wenig Wasser zu wärmen. Sie wollte wenigstens für Franz ein paar Haferflocken zubereiten. Es gelang nicht. Der Wind fuhr in den Wagen und pustete die Flamme aus. Auch wäre das winzige Feuer wohl kaum im Stande gewesen, den Schnee zu tauen und das Wasser zu erhitzen. Schließlich gab sie es auf. Franz erhielt eine Scheibe vom letzten Brot. Die anderen kauten Haferflocken mit Zucker und als Nachtisch ein Bröckchen Brot. Wurst gab die Mutter den Kindern nicht. Denn die gewürzten Speisen locken den Durst. Und außer dem Schnee, der auf die Zunge fiel, gab es nichts mehr zu trinken.
Als Vater am Morgen die Plane losband, hatte das Schneetreiben aufgehört. Zwar war es dunstig und graue Wolken hingen tief über dem Eis, aber darüber freute er sich. Fliegerangriffe waren bei diesem Wetter kaum zu befürchten.
20
Gegen Mittag verdichtete sich der Dunst vor ihnen. Allmählich wuchs aus dem nebligen Schleier ein dunkler Streifen über dem Eis, die Küste. Dann unterschieden sie die Dünen und das helle Grau der Häuser eines Fischerdorfes. Die Katen duckten sich unter schweren Strohdächern.
»Es sieht aus«, sagte Hedwig, »als ob die Schneelast auf den Dächern die Häuser in den Sand gedrückt hätte.«
Die Wagenschlange kroch auf Bodenwinkel zu. Lotter trabte an. Die Muskeln auf dem Rücken und über den Hinterbeinen sprangen hervor. Er zog den Wagen schnell auf die Uferstraße.
»Endlich wieder Erde unter den Rädern!«, sagte Konrad.
Es schien, als ob alle freier atmeten. Die Freude, dem brüchigen Eis und der grimmigen Kälte entronnen zu sein, deckte die Angst ein wenig zu.
Sie fuhren bis hinter den Dünenstreifen. Dann wiesen Feldjäger den Weg durch Bodenwinkel. Aus einem Ziegelhaus mit vielen Fenstern strömten vermummte Leute. Sie trugen dampfende Gefäße. Andere standen aufgereiht und warteten darauf, eingelassen zu werden. Sie stampften hart mit den Füßen und schlugen die Arme um die Brust.
Konrad lief das Wasser im Mund zusammen. »Dort gibt es etwas Heißes!«, rief er fröhlich.
»Ich bin durchgefroren bis in die Seele«, bemerkte Albert und schüttelte sich.
Das
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