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Das Jahr der Woelfe

Das Jahr der Woelfe

Titel: Das Jahr der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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»Justus ist bei der Fahrt über das Haff erfroren.«
    Konrad fiel das Kindergeschrei ein. Er wusste plötzlich, warum es immer leiser geworden war. Vor acht Uhr sahen sie die Weichselbrücke vor sich liegen. Viele Gespanne warteten. Ein Marinesoldat in blauer Uniform trat auf sie zu und bat: »Gib mir Feuer, Alterchen.«
    Konrad lachte in sich hinein. »Alterchen«, hatte der Matrose zu Vater gesagt. Doch so ganz abwegig war seine Anrede nicht. Das kränkliche, blasse Gesicht war mit langen, steifen Bartstoppeln bedeckt. Schwarz und grau.
    »Wann geht es weiter, Kamerad?«, erkundigte sich Vater. Der Matrose blies den Rauch in einem dünnen Strahl in die Luft. »Vor neun vielleicht, oder erst in der Nacht. Die Brücke ist ganz verstopft mit Militärfahrzeugen.«
    Es ging wirklich erst los, als es beinahe neun war.
    Gleichmäßig klapperten Lotters Hufe, eintönig knarrte das Holz des Wagens. So ging es bis in die Nacht. Die Kinder fielen in einen flachen Schlaf. Jedes Mal, wenn der Zug stockte und das vertraute Schaukeln und Rucken des Wagens für eine Weile der Stille wich, erwachte Konrad, sah den Rücken des Vaters auf dem Bock und Mutter im abgeblendeten Licht der Sturmlaterne. Die Perlen des Rosenkranzes glitten durch ihre Hände und ihre Lippen bewegten sich, ohne dass ein Laut darüberschlüpfte.
    Gegen Morgen wachte Konrad auf. Sie standen wieder. Es war kalt. Er sah, dass Mutter sich zurückgelehnt hatte. Ihre Händen lagen ruhig. Der Rosenkranz war ihr in den Schoß geglitten. Lautlos richtete er sich auf und zog ihr die Zudecke bis unter das Kinn. Sie blinzelte, lächelte dankbar und kuschelte sich in das Federbett. Der Junge schlug sich in die Decke und tippte Vater auf die Schultern.
    »Lass mich ein wenig fahren, Vater.«
    Vater rückte zur Seite und reichte ihm die Zügel. Doch kroch er nicht in den Karren, sondern nahm seinen Tabaksbeutel und stopfte die Pfeife. Sein Gesicht sah im Schein des Streichholzes hager und übernächtigt aus. Tiefe Falten zogen sich vom Mund her in die Bartstoppeln und scharf hatten sich die Krähenfüße an den Augen eingegraben.
    Es ist gut, wenn Vater neben mir sitzt, dachte Konrad und steckte seine Hand zu der des Vaters in die Joppentasche.
    »Es kann sein, Junge«, begann der Vater nach einer Weile, als Lotter den Wagen nicht weiterziehen konnte, »es kann sein, dass wir durch widriges Geschick einmal auseinander kommen.«
    »Lass uns doch zusammenbleiben, Vater.«
    »Junge, merk dir gut, was ich dir nun sage. Solltest du je von uns getrennt werden, dann versuche stets, zu Onkel Georg nach Berlin zu gelangen.«
    »Nach Berlin? Zu Hubertus’ Vater? So weit?«
    »Wir werden wohl die Heimat so bald nicht wiedersehen, Konrad«, sagte der Vater ernst und starrte lange vor sich hin, bevor er weitersprach.
    »Wiederhole die Adresse: Berlin-Wedding, Konstantinweg 144 d.«
    Gehorsam wiederholte der Junge die Anschrift.
    »Dorthin wollen wir alle. Dann werden wir weitersehen.«
    »Nie wieder nach Leschinen?«, flüsterte Konrad. Ihm fiel plötzlich der schwere Karpfen ein, den er im Sommer gefangen hatte, und die große Wiese hinter dem Wald und Miau und die Eulen.
    Vater spürte, wie niedergeschlagen der Sohn war, und begann zu erzählen: »Georg war unser Ältester und groß und stark. Als ich noch ein ganz kleiner Bursche war, spielte er am Johannistag einmal den Goliath. Der Lehrer wollte es so. Georg spielte gern. Aber am Riesen Goliath lag ihm gar nichts. Das Schwert und der blanke Helm gefielen ihm schon, aber dass der kleinste Junge aus der ganzen Schule ihn jedes Mal bezwingen durfte, das hatte er nicht gut vertragen, zumal ihn die Nachbarskinder damit neckten. Viermal hatte der Lehrer das Spiel schon geprobt und viermal hatte sich Goliath so echt niederfallen lassen, als ob des kleinen Davids Schleuder wirklich mit einem Stein bestückt gewesen wäre. Am schlimmsten war für ihn der Augenblick, wenn David seinen Fuß auf Goliaths Brust setzte, ihm das Holzschwert abnahm und mit der Spitze in seinen Hals pikte.
    Bei der ersten Probe kitzelte der tote Riese den Gottesmann unter dem Fuß und der begann zu lachen, statt das Heer der Israeliten zum Lob des Herrn aufzufordern. ›Wen es juckt, den muss man kratzen‹, schimpfte der Lehrer erzürnt und zog Georg mit der Haselrute so heftig über den Hosenboden, dass die folgende Probe ohne Störung verlief. Der Riese blinzelte lediglich aus schmalen Augen und achtete auf die Philister, die unverhohlen lachten, und schwor,

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