Das Jahr der Woelfe
stellte sich neben sie. Doch nirgendwo konnte er Vater sehen. Wagen, Soldaten, Flüchtlinge, einige Autos.
»Siehst du ihn?«
»Nein, Mutter.«
Noch fünf Wagen vor ihnen, dann waren sie auf dem Eis. Die Soldaten durchsuchten jeden Wagen. Dort holten sie einen Jungen heraus, kaum einen Kopf größer als Konrad.
»Er ist mein Neffe!«, schrie die Frau. »Gerade erst fünfzehn ist er. Lasst ihn mitziehen.«
»Er bleibt!«, antwortete ein Offizier. »Du willst doch deine Heimat verteidigen, nicht wahr?«, fragte er laut den Jungen.
Der nickte stumm und blass.
»Verteidigen?«, schrie die Frau. »Mit Kindern wollt ihr verteidigen?«
»Sei still, Tante«, bat der Junge leise.
»Los, weiter!«, drängte der Offizier und gab dem Soldaten einen Wink. Mit einem Lederriemen klatschte er dem Pferd auf den Rücken. Es warf den Kopf hoch und trabte aufs Haff. Die Eisdecke zitterte.
»Siehst du Vater?« Angstvoll klang die Stimme der Mutter.
»Nein, nirgendwo.«
Noch drei Wagen. Auch der Greis auf dem Bock vor ihnen musste bleiben. Er war älter als siebzig. Still blickte er seiner Frau in die Augen und gab ihr die Zügel.
»Wir sehen uns bald wieder, Katharina«, sagte er und deutete nach oben.
»Komm, Alter, predigen kannst du später«, unterbrach ihn ein junger Soldat rau.
»Sieh nach Vater«, bat die Mutter.
Der Soldat trat heran. »Na, keinen Mann an Bord?«
»Nein«, sagte die Mutter fest.
»Lasst mich mal unter die Plane sehen.«
Er griff nach dem Verdeck.
»Finger weg!«, zischte die Mutter.
Der Soldat kuschte. Sie schlug selbst die Plane zurück.
Franz kniff, vom hellen Licht geblendet, die Augen zusammen.
»Schon gut«, knurrte der Soldat und gab den Weg frei.
Der Wagen rumpelte über die Bretterrampe auf das Eis.
»Wo ist Vater?«, hauchte die Mutter.
Konrad kamen die Tränen. »Ich kann ihn nicht sehen. Mutter, nirgendwo kann ich ihn sehen.«
18
Die Kinder rückten dicht zur Mutter. Konrad schaute immer wieder zurück. Er hoffte Vater noch einmal zu sehen. Tränen verschleierten ihm den Blick. Zudem wuchs die Entfernung allmählich. Der Treck zog geradewegs vom ostpreußischen Ufer weg auf die Nehrung zu. Lotters Hufe schlugen nur zuweilen hart auf. Räder und Eisen knirschten im Kristallstaub der von tausend Wagen zermahlenen Eisfläche.
»Ich will meinen Vater wiederhaben«, rief Franz in kindlichem Trotz. Er wartete vergebens auf Antwort und brach plötzlich in lautes Weinen aus. Mutter drückte seinen Kopf in ihren Schoß. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Kleid. Da gab sie Konrad die Zügel und hob den Jungen zu sich und hielt ihn im Arm.
Vor ihnen rollte ein schwer beladener Leiterwagen. Möbel und Geräte waren mit einer braunen Plane abgedeckt. Vorn saßen drei oder vier Menschen. Doch wurden sie halb verdeckt von der hoch aufgetürmten Ladung. Die beiden schweren Pferde führte eine junge blonde Frau.
Die Festlandküste war nur noch ein grauer Balken am Rand der Eisfläche. Selbst die Häuser schrumpften zusammen. Die Stäbe, die den Weg im Eis bezeichneten, wurden in der Ferne dünn wie schwarz gebrannte Streichhölzer. Konrad blickte unentwegt nach vorn. Seine Augen wurden klar. Er war jetzt ein Mann. Vater sollte mit ihm zufrieden sein. Viele Wagen fuhren ohne Männer. Fast überall zogen Frauen und Kinder. Die wenigen Greise wollte er nicht rechnen.
Aber dort wartete ein Mann. Er trug einen Eimer in der Hand und blickte auf die Wagenreihe, als ob er jemand suchte.
»Sieh mal, Mutter«, sagte Hedwig, sprang dann aber mit einem Satz über den Bock vom Wagen hinunter und eilte längs des Zuges über das Eis.
»Vater! Vater!«
Der Mann lief jetzt. Die Mutter hatte sich erhoben. Röte flog über ihr Gesicht. Jetzt erkannte Konrad die Mütze, die lange Jacke, den Zinkeimer.
»Er ist es wirklich«, jubelte Albert. Franz vergaß seine Fragen und streckte Vater die kurzen Arme entgegen.
Vater wirbelte Hedwig einmal herum, griff nach dem kleinen Kind und hob es hoch, half Hedwig schließlich in den Wagen und zog sich selber hinauf. Mutter legte ihr Gesicht auf die Schulter ihres Mannes. Es war, als ob ihre ganze Kraft zusammensänke. Ihr Rücken bebte. Die Kinder drängten sich um den Vater. Franz wischte mit dem Zipfel von Vaters Schal seine Tränen von den Wangen. Konrad nahm Vaters Hand und legte die Zügel hinein. Vaters Hand war heiß vom Fieber.
»Es war die einzige Möglichkeit, Agnes«, erklärte Vater mit leiser Stimme. »Sie hielten alle Männer fest. Ich lief mit dem
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